Alles Gute kommt von oben. Dieses Sprichwort wird gemeinhin auf den Jakobusbrief des Neuen Testaments zurückgeführt und mit „oben“ ist natürlich der allmächtige gütige Gott gemeint. In einer Großoktavausgabe (für ältere Leser) des Neuen Testaments, die der langjährige Lenneper Pfarrer Roland Spengler meiner Großmutter zum 70. Geburtstag schenkte, heißt es genauer: „Alle gute Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts“.
Alles Gute kommt von oben – dies konnten die Lenneper im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs natürlich nicht ohne weiteres sagen, gerade auch in den Jahren 1943 und 1944, in denen in der Advents- bzw. Weihnachtszeit so viele Bomben auf Lennep abgeworfen wurden. Die ersten Bomben fielen in Lennep schon am 7. September 1940. Dazu heißt es in der 1956 gedruckten Geschichte der evangelischen Kirchengemeinde Lennep: „Es waren Brandbomben und Phosphorbomben auf einer Flammenkette, die vor der Röntgenschule begann und über die Teiche und den Friedhof verlief, das Florathsche Haus am Jahnplatz in Brand steckte und über dem Kraspütt und dem Modernen Theater auslief“. Dieses Kino befand sich an der Wallstraße, ehemals ein Anbau des Restaurationsbetriebes Kölner Hof am Kölner Tor. Insgesamt waren es über die Jahre ca. 1500 Alarme, bis am 10. März 1945 bekanntlich ein dem Bahnhof zugedachter Bombenteppich über große Teile der Lenneper Neustadt und Industrieanlagen fiel.
Darüber und generell über die Bombardierung Remscheids ist schon viel geschrieben worden, und für den Stadtteil Lennep existiert sogar eine von privater Hand gezeichnete Karte mit der Markierung der einzelnen Bombentreffer (www.lennep.eu/vor-65-jahren-bomben-auf-lennep/) Ein in der Nähe des Jahnplatzes aufgewachsener Lenneper erinnerte sich ca. 50 Jahre nach den Abwürfen, dass die damaligen Bomben für die Kinder aber auch etwas Positives brachten. So berichtet er in schöner Lenneper Ausdrucksweise: „Als Kinder, ich war elf Jahre, war das für uns interessant. Nach den Angriffen ging es auf Splittersuche“. Ganz diesseits des Altmetallaspektes waren besonders die Geschosshülsen gefragt, die damals in der Schule genauso getauscht wurden wie die Sammelbilder der Margarine- oder Zigarettenindustrie. Noch heute gibt es im Militariabereich für so etwas einen Markt.
Flugblätter fallen vom Himmel
Die Alliierten Feindflieger warfen seinerzeit über Lennep aber nicht nur Bomben ab, sondern auch Flugblätter. Den Heranwachsenen schienen sie zunächst ebenfalls Tauschobjekte zu sein, für die vielen Sammelbilder im Dritten Reich, zur Tier- und Pflanzenwelt, zur Deutschen Geschichte und Politik sowie zur Rüstung in den 1930er Jahren. Die deutschen Ritterkreuzträger waren dabei natürlich besonders beliebt, und zu ihnen hätten ja die herabgeworfenen Flugblätter der alliierten Truppen, zumindest aus heutiger Sicht, zeitgeschichtlich auch gepasst. Aber weit gefehlt! Die Erwachsenen nahmen den Sammlern nämlich alle Flugblätter sofort aus der Hand, lasen sie selbst und ließen sie möglichst schnell verschwinden. Eine Diskussion oder Erklärung gab es gegenüber den Kindern in der Regel nicht; wenn sie dazu kamen, dann wurde nach der Erinnerung des genannten Lennepers schnell das Thema gewechselt. „Mir war schon klar“, meinte der später, „dass da was nicht stimmte, aber um noch weiter zu denken, dazu war ich damals noch zu jung.“
Die Erwachsenen aber wussten nur zu genau, was hier nicht stimmte, und worüber man damals reden durfte und worüber nicht. Prägend für die letzte Phase des Zweiten Weltkriegs waren nämlich nicht nur die verlustreichen Kämpfe, sondern auch die immensen Propagandaschlachten, die man sich mit vielen Tausenden von Flugblättern lieferte. Die Deutschen verteilten sie in ihren Städten, die Alliierten warfen sie dort aus der Luft ab, die Durchhalteparolen wurden bekämpft mit der Aufforderung, den sinnlosen Widerstand aufzugeben oder am besten gleich überzulaufen, zumindest aber die Gefangenen bzw. Fremd- und Zwangsarbeiter gut zu behandeln. Nicht nur den ganz großen Lenneper Firmen, sondern auch mittelständischen Betrieben war seinerzeit dies kriegsbedingte Ersatzpersonal zugewiesen.
Im Gegensatz zu den Kindern und Jugendlichen war also den Erwachsenen die Brisanz feindlicher Flugblätter nur zu bekannt. Sie wussten, dass man die abgeworfenen Flugblätter nicht der kindlichen Sammelleidenschaft überlassen durfte, geschweige denn der eigenen. Wie gefährlich seinerzeit Besitz und Umgang mit Flugblättern der Kriegsfeinde war, dies lässt sich an den damaligen Zeitungsartikeln der heimischen Presse ermessen. Dort stand beispielsweise am 14. 04. 1944 zu lesen:
Feindliche Flugblätter nicht abgeliefert – Zuchthaus wegen Feindbegünstigung
„Ein gewisser Max Scheibe wurde vom Kammergericht in Berlin wegen Feindbegünstigung zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Scheibe hatte eine Anzahl der von britischen Terrorfliegern abgeworfenen Flugblätter nicht abgeliefert, sondern den Inhalt in bekannten Kreisen verbreitet. Wie die feindlichen Rundfunksendungen darauf abgestellt sind, durch plumpe Drohungen und Einschüchterungen die Stimmung und moralische Haltung des deutschen Volkes in der Heimat zu beeinflussen, so sollen auch die Flugblätter des Feindes nur Verwirrung stiften. Damit die Volksgenossen nicht verleitet werden, gewissermaßen seelische Selbstverstümmelung zu begehen, ist das Abhören feindlicher Sender unter schwere Strafen gestellt. Die Reichsregierung hat nun kürzlich angeordnet, dass auch jeder, der Feindblätter findet, diese unverzüglich bei der nächsten Polizeidienststelle abzuliefern hat. Wer es unterlässt, wird mit Gefängnis bestraft. Wer gefundene feindliche Flugblätter weitergibt, oder aus ihnen vorliest oder ihren Inhalt weitererzählt, gehört zu jener üblen Sorte von böswilligen Gerüchteverbreitern, die wegen Begünstigung des Feindes ebenfalls schwere Bestrafung zu gewärtigen haben“.
Der bereits erwähnte damals elfjährige Lenneper erinnert sich noch heute ganz genau, dass auch er natürlich Flugblätter nach dem Abzug der feindlichen Flugzeuge auf dem Jahnplatz aufgelesen hat. An manche kann er sich heute sogar noch konkret erinnern, z. B. an nachstehendes Flugblatt vom 7. November 1944.
Der Text dort lautet unter der Überschrift Alliiertes Oberkommando (Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force) Bekanntmachung: Deutsche! Unter Euch befindet sich eine große Anzahl Menschen in Zwangsarbeitsbataillonen und in Konzentrationslagern. Deutsche! Befolgt keine Befehle, von welcher Seite auch immer, zur Schikanierung, Misshandlung und Unterdrückung dieser Menschen. Die Alliierten Armeen, die bereits auf deutschem Boden festen Fuß gefasst haben, erwarten auf ihrem Vormarsch, diese Menschen lebendig und unverletzt vorzufinden. Schwere Strafen werden Jeden treffen, der mittelbar oder unmittelbar, in großem oder kleinem Maß, sich ihrer Misshandlung schuldig gemacht hat. 7. November 1944, Dwight D. Eisenhower General, Oberster Befehlshaber der Alliierten Streitkräfte.
Die abgeworfenen Flugblätter der Alliierten Streitkräfte hatten damals ganz unterschiedliche Funktionen. Sie sollten die deutsche Propaganda verunsichern, sie sollten über die deutsche Wirklichkeit aufklären und gegen Kriegsende auch deutsche Soldaten zum Überlaufen motivieren. Zu diesem Zweck wurden 1944 sogar spezielle Passierscheine abgeworfen. Auf diesen war zu lesen: Passierschein – Der deutsche Soldat, der diesen Passierschein vorzeigt, benutzt ihn als Zeichen seines ehrlichen Willens, sich zu ergeben. Er muss gut behandelt werden. Er hat Anspruch auf Verpflegung und, wenn nötig, ärztliche Behandlung. Er wird so bald wie möglich aus der Gefahrenzone entfernt. Unterschrieben war das Flugblatt mit dem Schriftzug von Dwight D. Eisenhower, Oberbefehlshaber der Alliierten Expeditionsarmeen.
Das Flugblatt enthielt darunter die englische Übersetzung. Sie diente als Anweisung an die alliierten Vorposten für die Behandlung der Überlaufenden. Sodann schließen sich folgende Klarstellungen an:
Als Soldaten gelten aufgrund der Haager Konvention (IV, 1907): Alle bewaffneten Personen, die Uniform oder von weitem erkennbares Abzeichen tragen. Folgende Regel für die Gefangennahme sollten beachtet werden: Um Missverständnisse bei der Gefangennahme auszuschließen, ist folgendes angezeigt: Waffen weglegen, Helm und Koppel herunter; Hände hochheben und ein Taschentuch oder dieses Flugblatt schwenken.
Häufig versuchten die immer weiter vorrückenden Alliierten durch eine ganz aktuelle Berichterstattung das Schweigen oder die Lügen der deutschen Presse aufzubrechen, z.B. anlässlich der sog. Rundstedt-Offensive, die heute international eher als Ardennenoffensive bekannt ist. Sie war einer der letzten Versuche der nationalsozialistischen Militärführung, den westalliierten Kräften eine große Niederlage zuzufügen. Der zunächst gewonnene Raum ging jedoch im Zuge der alliierten Gegenoffensive bis Februar 1945 wieder vollständig verloren.
In einem Flugblatt vom 28. Januar 1945 mit der Überschrift Bericht zur Lage hieß es dazu:
„Die deutschen Armeen sind aufgerieben. Vom Osten und Westen setzen die Alliierten zum Todesstoß an. Die Rundstedt-Offensive hat eines erreicht: Die Zerstörung der deutschen Einheiten. Die 6. SS-Panzer Armee erlitt schwere Verluste. Von den besten Panzer- und Infanteriedivisionen im Westen sind nur noch verstümmelte Teile übrig. Mit neuer Ausrüstung und frischen Kräften durchbrechen die Alliierten den Westwall. Die Russischen Armeen haben die deutschen Verteidigungsstellungen überrannt. Schlesien, Posen und Ostpreußen sind zum größten Teil in russischen Händen. Die deutschen Einheiten fallen ständig zurück. Schon fühlt Deutschland die Katastrophe des verlorenen Krieges. Frauen und Kinder sind zu Tausenden auf den Landstraßen. Sie schieben ihre wenige Habseligkeiten vor sich hin. Welches Obdach erwartet sie in den Städten, über denen die alliierten Flieger kreisen? Die Männer bleiben zurück und werden im Volkssturm geopfert. Wie lange wollt Ihr den sinnlosen Widerstand noch fortsetzen? Wie viele Hunderttausende von Euch wollen noch sterben, bevor Ihr zur Vernunft kommt und Eure Waffen niederlegt? Nur durch Übergabe könnt Ihr jetzt Eurem Vaterland dienen. Kriegsgefangene werden den Bestimmungen des Genfer Abkommens gut behandelt“
Zuletzt noch ein Flugblatt vom 28. Januar 1945. Dort konnte man auf der einen Seite lesen: Die Lage am 28. Januar 1945 – Westfront: Im Angriff nördlich Sittard gewannen britische Truppen den Raum zwischen Maas und Roer. Untern den genommenen Ortschaften ist die Stadt Heinsberg. Im Ardennenabschnitt ist die Rundstedt-Offensive endgültig liquidiert worden. Die deutschen Truppen sind zu ihren Ausgangsstellungen vom 16. Dezember zurückgekehrt. Die Offensive kostete Feldmarschall von Rundstedt 120.000 Mann an Toten, Schwerverwundeten und Kriegsgefangenen, 600 Panzer und Sturmgeschütze. Nördlich Strassburg sind deutsche Truppen durch den Hagenauer Forst bis an die Moder vorgedrungen. Ihre Brückenköpfe über den Fluss sind von den Amerikanern zurückgeworfen worden. Im Raum von Kolmar dauern französische Angriffe in nördlicher und östlicher Richtung an.
Die andere Seite des Flugblatts beschrieb die Lage am 28. Januar 1945 an der Ostfront so: In Ostpreußen stehen russische Einheiten 7 km ostwärts Königsberg. Marschall Rokossovskys Truppen haben ostwärts Elbing das Frische Haff erreicht und damit jegliche Landverbindung zwischen Ostpreußen und dem Reich abgeschnitten. Marschall Schukovs Armeen sind bei Schneidemühl und Lissa bis an die Reichsgrenze von 1938 vorgedrungen. Thorn und Posen sind eingeschlossen. Am 23. Januar sind die Russen in Bromberg eingedrungen. Bei Steinau, 55 km nordwestlich Breslau, bestreiten deutsche Truppen den Übergang über die Oder. In Oberschlesien sind Oppeln, Gleiwitz und Hindenburg von russischen Kräften erobert worden. Heute meldet der sowjetische Heeresbericht die Einnahme von Beuthen und Kattowitz.
Marschall Konievs Heeresgruppe steht zur Zeit auf einer 210 km breiten Front in Schlesien, und zwar bis zu einer Tiefe von 25 km. Während der ersten zwei Wochen der russischen Großoffensive verlor die deutsche Wehrmacht 381.000 Tote und Kriegsgefangene, 3.075 Panzer, 8.000 Geschütze, 450 Flugzeuge und 34.000 Kraftfahrzeuge.
Kommen wir noch einmal auf die große Gefährlichkeit der Flugblätter zurück, die von den alliierten Flugzeugen über unseren Heimatstädten, und eben auch in Lennep, in den letzten Kriegsjahren herabgeworfen wurden. Auch im Remscheider Gesamtgebiet gab es diesbezüglich in den Zeitungen immer wieder öffentliche Warnungen wie diese:
Öffentliche Warnung
„Aus Feindflugzeugen sind über einzelnen Gebieten der Rheinprovinz wiederum gefälschte Reise- und Gaststättenmarken, vornehmlich solche in Fleisch, Brot, Butter, Margarine, Nährmittel und Käse abgeworfen worden. Die abgeworfenen Marken weichen in ihrer Herstellung offensichtlich von den echten ab und sind demnach ohne weiteres als Fälschung zu erkennen. Volksgenossen, die solche Marken finden, sind verpflichtet, diese unverzüglich einer der nächsten Dienststellen des Ernährungsamtes, der Polizei oder einer Parteidienststelle abzugeben. Wer vom Feind abgeworfene Lebensmittelmarken, Reise- oder Gaststättenmarken nicht abgibt, für sich oder andere benutzt oder beliefert, macht sich daher eines schweren Verbrechens schuldig. Er sabotiert den Sieg und arbeitet den Feinden in die Hände, er hat schwerste Strafen, unter Umständen wegen Kriegssabotage die Todesstrafe, zu erwarten. Einzelhandel, Gaststätten und ähnliche Einrichtungenwerden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass gefälschte Marken nicht abgerechnet werden. Unterscheidungsmerkmale der gefälschten Marken sind deutlich zu erkennen und gegebenenfalls beim Ernährungsamt zu erfahren. Remscheid, den 24. April 1944. Der Oberbürgermeister – Ernährungsamt Abt. B
Es ist sicherlich ein Glück, dass die hier angesprochenen Flugblätter der Alliierten Streitkräfte trotz der geschilderten Gefahren im Umgang mit ihnen die Kriegszeiten überlebt haben und als Originale für Geschichte und Forschung herangezogen werden können. Darüber hinaus sind sie für so manchen Bürger auch ein Anlass, sich zu erinnern, und zwar an eine Jugendzeit, die aufregend war und nicht nur schöne Seiten hatte, vor allem in der Advents- und Weihnachtszeit.