So mancher heutige Lenneper erinnert sich noch gut an ein uraltes Gebäude, das früher am heutigen Fritz-Figge-Weg lag, von der Schwelmer Straße aus gesehen auf der linken Seite. Es war ein langgestreckter Bau an der früher noch schmaleren Gasse, die seinerzeit keinen eigenen Namen trug. Wegen der beengten örtlichen Gegebenheiten zeigen historische Fotos den Bau meist nur von der hinteren Seite oder aber in der Schrägperspektive, und nur bei den sog. Totalaufnahmen der Stadt Lennep, die z.B. von den Dächern der oberen Kölner Straße oder aus der Luft aufgenommen wurden, ist er seiner ganzen Größe und Länge zu sehen. Besonders ist dies der Fall auf Fotografien, die vom Turm der evangelischen Stadtkirche aus über die Berliner und die Schwelmer Straße hinweg in Richtung der katholischen Kirche gemacht wurden, dieser Blick ist auch auf mehreren alten Postkarten und sogar koloriert erhalten.
In Büchern über das frühere Lennep wird der Bau oft im Zusammenhang mit der alten katholischen Schule an der Mühlenstraße gezeigt, in der 1848 auch die erste Klasse der höheren Bürgerschule untergebracht war, und die 1849 als Cholera-Lazarett diente. Das hat insofern seinen Sinn, als diese Höhere Bürgerschule 1851 in den genannten Bau am heutigen Fritz-Figge-Weg zog, der ebenfalls in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden war. Sie blieb dort bis ins Jahr 1868, als in der Hardtstraße der Neubau der Bürgerschule erfolgte, die heutige Freiherr-vom-Stein-Schule mitsamt Tuchmuseum.
In unserem Zusammenhang ist der langgestreckte Bau von ganz spezieller Bedeutung. Nach mancherlei historischer Umnutzung steht diesbezüglich im Lenneper Adressbuch von 1903 zu lesen, dass darin das sog. Königlich Preußische Bezirkskommando und sein Hauptmeldeamt untergebracht waren. Die schmale Gasse dorthin zählte seinerzeit zur Schwelmer Straße und das Gebäude trug die Hausnummer 29.
Das Bezirkskommando gehörte damals der Kreisverwaltung an und war um die Wende ins 20. Jh. eine militärische Behörde, die in Verbindung mit den Landräten vor Ort das sog. Ersatzwesen und dabei u.a. die Musterungen besorgte. Ferner oblag ihm die Organisation der beurlaubten Offiziere und Mannschaften, die Einberufung bei den Reserveübungen und der Mobilmachung sowie die Aufbewahrung der Bekleidungs- und Ausrüstungsstücke der Landwehr und Reservebataillone. Der Bezirkskommandeur war in der Regel ein früherer, jetzt inaktiver Stabsoffizier.
Bereits im Lenneper Adressbuch von 1870 war eine Königliche Landwehrbehörde mit immerhin einem Bezirksfeldwebel als Leiter verzeichnet. Im Adressbuch von 1903 wurde als Zivilvorsitzender der Kreis-Ersatz-Kommission der Königliche Landrat Dr. Hentzen genannt, sein Vorgänger Lambert Rospatt ist noch heute auf einem schönen Gruppenbild des Lenneper Landwehrvereins zu sehen, auf dem er inmitten der alten Kameraden im Jahre 1881 das 25jährige Bestehen dieses Vereins feiert. Alte Lenneper Namen findet man dabei: Hager, Krautmann, vom Berg, Peipers, Girardet und Hammacher. Lennep besaß im Jahre 1903 übrigens diesen Landwehrverein immer noch in alter Frische, er tagte in der Poststraße 2, also im Berliner Hof, außerdem gab es damals einen Lenneper Krieger- und einen eigenen Kavallerieverein.
Die Musterungen in der Kreisstadt Lennep brachten damals allen Beteiligten nicht nur Aufwand. In einem zeitgenössischen Rückblick ins 19. Jahrhundert hieß es z.B.: Eine große Freude war es immer, wenn im Frühjahr die Burschen zur Aushebung zum Militär nach Lennep mussten. Meist sammelten sie sich, angetan mit einem blauen Brabanter Kittel bzw. einem besonderen Musterungsrock am früheren Stadttor, um dann geschlossen mit Gesang in Reih und Glied zum Aushebungslokal der Kreisstadt zu ziehen. Dieses war zunächst die Gaststätte König von Preußen am Alten Markt, später fanden die Musterungen im Saal des Kölner Hofs statt, und die Jungens hatten das Vergnügen, vor dem Oberstabsarzt im Adamskostüm einen Parademarsch durchzuführen. Danach zogen sie singend, voll Freude und später auch voll Alkohol wieder ab und teilten ihren Verwandten und Freunden das Ergebnis der Musterung auf bunten Ansichtskarten mit, die übrigens oft nicht frei von antijüdischer „Belustigung“ waren, denn es wurden in der Kaiserzeit „ganz nebenbei“ jüdische Freiwillige als kleine, mickrige bzw. wehruntaugliche Figuren dargestellt. Die bekannten Motive Gruß von der Musterung zeigten meist ein Musterungslokal und fast immer ein Bild des Kaisers. Die partiell vorgedruckten Texte lauteten zum Beispiel so: Liebe Angehörige, ich mache Mitteilung, dass ich heute zum Landsturm ausgehoben wurde. Die jungen Burschen kamen vielfach in die preußischen Stammregimenter der 16er, 39er, 53er und 57er, aber auch nach Ost- und Westpreußen, Elsass-Lothringen, Berlin, Spandau und Potsdam. Die bunten Bänder, die im Verkaufsraum des Musterungslokals käuflich zu erwerben waren, gaben bekannt, zu welchem Regiment und Truppenteil der Rekrut gezogen worden war. Wie schon erwähnt wurde das in den Lenneper Wirtschaften ausgiebig gefeiert. Die Aushebungen in den Bezirkskommandos gaben insgesamt Gelegenheit zu feuchtfröhlichen Feiern und der Andenkenhandel blühte. Oft legte man sich dann sog. Reservistenkrüge zu, manchmal mit Zinndeckeln, die einer Haubitzengranate nachgebildet waren, und z.B. mit der Beschriftung: Kanonendonner ist unser Gruß. Bis in den Krieg hinein erfreute sich die Mitgliedschaft in einer militärischen Organisationseinheit, man denke nur an Zuckmayers Hauptmann von Köpenick, hoher Wertschätzung und gab der gesamten Familie Anlass zur Freude.
Das komplexe Rekrutierungssystem des Ersten Weltkrieges (1914-1918) ist bis heute Ursache größerer Missverständnisse. Diese beruhen größtenteils auf der Verschiedenartigkeit der Bezeichnungen wie „aktiv“, „Reserve“, „Ersatz- Reserve“, „Landwehr“ und „Landsturm“. Letzter bestand im Deutschen Reich ab 1888 im aus Wehrpflichtigen, sofern sie nicht im Heer oder in der Marine dienten.
Im Ersten Weltkrieg wurde das Landsturmbataillon Lennep 1914 am 21.Tag der Mobilmachung gebildet, und die Mannschaften setzten sich aus den ältesten Jahrgängen der Landwehr und aus noch garnisonsdienstfähigen Mannschaften des ganzen Kreises zusammen. In den bei mir erhaltenen Archivbeständen zur Stadtgeschichte Lenneps sind insbesondere Originaldokumente zu den Einsatzgebieten in Lothringen bzw. der sog. Wallonie vorhanden, allesamt ausgehend vom Lenneper Bezirkskommando und seinem Hauptmeldeamt, das zur Vorstellung und Einberufung seine amtlichen Aufforderungen schrieb, mit den entsprechenden Vordrucken und Stempeln. So schickte es z.B. dem Herrn Friedrich Remmel aus der Lenneper Schriftsetzer- und Buchbinderfamilie, wohnhaft in der Botengasse 4, am 26. Juni 1918 eine ausgefüllte Vordruckkarte, deren Textseite lautete: „Gestellungsbefehl, Datum des Poststempels. Sie haben sich am 13. Juli 1918 morgens Punkt 8 Uhr –rein gewaschen- zur Nachmusterung der königlichen Ersatzkommission Lennep, in den Räumen der Wirtschaft Michels (Kölnerhof) zu stellen. Bei Nichtbefolgung dieses Befehls erfolgt strenge Bestrafung nach den bestehenden Kriegsgesetzen“. Bei Krankheit sollte der Empfänger der Karte ein ärztliches Attest vorlegen, dessen Unterschrift polizeilich beglaubigt sein musste.
Zu den Lenneper Zeugnissen im Zusammenhang des Ersten Weltkriegs gehören aber nicht nur die amtlichen Schreiben des Bezirkskommandos, sondern auch private Postkarten und Briefe, welche die Lenneper Reservisten als Soldaten aus ihrem Einsatzort an ihre Familien in der Heimat sandten. In meinen Unterlagen kommen die meisten davon aus Limbourg-Dolhain, auf belgischem Gebiet südwestlich von Aachen. Dolhain oder früher auch Daelheim liegt als Teilgemeinde von Limbourg an der belgischen Weser (Vesdre), in deren Nähe auch die Gileppe Talsperre von 1878 liegt, die in gewisser Beziehung ein Vorbild der bergischen Talsperren ist. Ebenso liegt in der Nähe die Stadt Verviers, die wegen ihrer Wollhandels- und Tuchgeschichte ebenfalls eine besondere Beziehung zur Lenneper Vergangenheit hat. Und zu Verviers gehört auch der heutige Stadtteil Ensival, in dem ebenfalls mehrere Kriegsbriefe abgeschickt wurden.
Die genormten Kriegsbriefe haben alle eine Größe von 14 x 18 cm und eine Schriftbegrenzung mit Prägekleberand. Das Blatt mit der fertigen Nachricht wurde dann auf Briefgröße zusammengelegt und trug auf der einen Seite den Aufdruck Feldpostbrief sowie das auszufüllende Adressfeld. Auf der Rückseite waren für Absendername und Dienstgrad die Absenderangaben vorbereitet, weiterhin die Angaben zur militärischen Einheit und die Feldpostangaben. Die meisten erhaltenen Briefe kamen aus dem Landsturm-Bataillon-Lennep VII / 53 in die bergische Heimat. Sie sind gut erhalten und mit ihren Stempeln heute gefragte sowie teuer gehandelte Zeitzeugnisse. Die Stempel trugen z.B. den Text „Briefstempel – Kaiserliche Kommandantur Verviers“. Mit zunehmender Kriegsdauer waren der Herkunftsort und das Absendedatum der Briefe allerdings nicht mehr erkennbar.
Neben den dienstlich genormten Briefsendungen in die Heimat wurden wie schon erwähnt natürlich auch, sofern gestattet, private Briefe und Postkarten geschickt, etwa mit Stadtansichten aus Limbourg und Verviers sowie Geburtstags- und Weihnachtsgrüße mit französischsprachigen Beschriftungen wie bonne fête oder bonnes fêtes.
Kurz bevor ich Ende November 2013 diese Zeilen verfasste, erhielt ich aus privater Hand für mein Lenneparchiv noch einen Satz Fotos und Postkarten, die den Bereich Cluse, Halle, Durchsholz und Frielinghausen betreffen. Darunter sind auch zwei Ansichtskarten aus dem Ersten Weltkrieg, die genau zu unserem heutigen Thema passen, da sie zwei heimatliche Soldaten, damals in Lothringen, betreffen. Es handelt sich um Carl und Otto Manser aus dem genannten Lenneper Außenbereich. Augenscheinlich dienten sie in der 47. Reserve-Division, die ab 25. August 1914 für die Westfront aufgestellt wurde, jedoch bereits Ende November an die Ostfront abgezogen wurde. Anfang Mai 1917 kehrte sie an die Westfront zurück, bis Anfang Juni wurde sie im Raum Toul eingesetzt. Am 2. August 1918 wurde die Division in Lothringen aufgelöst.
Zu diesen Daten passen Text und Stempel einer Ansichtskarte des Carl Manser an seine Nichte Fräulein Erna Zapp an der Herbringhauser Cluse, postalisch per Feldpost über den Bahnhof Dahlhausen vom 16. Sept. 1917. Der Text lautet: „Liebe Erna, Nehme Veranlassung, auch Dir wieder einige Zeilen zu schreiben. Schicke Dir eine kleine Aufnahme von Otto u. mir und teile Dir noch mit, dass Otto bereits wieder aus dem Gewühl heraus ist und wohl vorläufig in Belgien weilt. Ich bin für drei Wochen nach Saon kommandiert und will mich hier mal wieder erholen. Herzlichen Gruß an Vater, Mutter und Erna. Dein Onkel Carl“.
Aber nicht nur nach Belgien, Frankreich oder überhaupt nach Westen wurden seinerzeit die Lenneper Ausgehobenen verlegt, sondern an alle damaligen Kriegsschauplätze einschließlich der deutschen Kolonien. Heute findet man im Internet z.B. Hinweise auf Lenneper im damaligen Tsingtau, etwa auf Paul Buchenau, den Sohn des Miteigentümers der Firma Moll Planen an der Neugasse 12. Er arbeitete damals als Kaufmann bei der Weltfirma Arnhold Karberg & Co. in Tsingtau, Adresse dort: Bremer Straße. Im August 1914, gleich bei Kriegsbeginn, wurde er über Lennep als sog. Gemeiner zum Landsturm eingezogen, war 1915 dann Gefangener im japanischen Osaka, wurde verlegt nach Ninoshima und dort im Dezember 1919 entlassen. Mit ihm ein weiterer Lenneper: Ernst Weishaar, dessen Eltern in den Eisenbahnerhäusern an der damaligen Hochstraße, heute Alte Kölner Straße, Nr. 21 bzw. 23 lebten, hatte ein ähnliches Schicksal. Im August 1914 wurde er über das Lenneper Bezirkskommando zur Marine eingezogen, wo er dann als Heizer bzw. Oberheizer wirkte. In die Heimat zurückgekehrt, nahm er später an den Veranstaltungen der Lenneper Tsingtau-Kameradschaft teil. Derartige Treffen waren in Deutschland bis in die 1960er Jahre noch durch alte Kameraden und weitere Interessierte recht gut besucht.
Viele Erzählungen unserer Groß- und Urgroßeltern berichten von der heute kaum mehr vorstellbaren Kriegsbegeisterung zur Zeit der deutschen Mobilmachung zu Beginn des Ersten Weltkriegs, Frauen und Mädchen begleiteten die Soldaten singend und jubelnd zur Bahn. Dann hieß es bald wie schon im Krieg von 1870/71 Raus aus Metz, Paris ist schöner, ein Ruf der gegen Ende des neuen Krieges allerdings eine gegenteilige Bedeutung erhielt, wenn es hieß Raus aus Metz, Toul und Verdun. Das Motto blieb seiner historischen Bedeutung entkleidet im Volksmund weiterhin präsent, und meine Mutter holte mich am Lenneper Mollplatz damit noch morgens aus den Federn, um mich in die Röntgenschule zu schicken.
Vieles könnte man noch erzählen, aus den Erkenntnissen, die aus den in meinem Archiv vorhandenen Lenneper Kriegszeugnissen zu gewinnen sind. Man muss sie nur näher betrachten, ggf. mit der Lupe und mit historischem Interesse natürlich. Dann verbinden sich nämlich die allgemeinen objektiven Kriegsdaten mit der eigenen Lokalgeschichte und mit Lenneper Familien, die manche von uns noch kannten und kennen.