Es ist noch nicht lange her, da schickte mir eine Lenneper Bekannte zwei Fotos von Details, die sie am Gebäude des ehemaligen Hotels zu Post an der heutigen Bergstraße in Lennep fand, woraufhin sie mit ihrem Handy ein paar Aufnahmen machte. Es handelte sich um teilweise mit Gräsern überwachsene Schmuckfiguren an einem Gebäude, das vor seinem schleichenden Niedergang nach dem Zweiten Weltkrieg in Lennep und über Lennep weit hinaus einmal eine große Bedeutung hatte: nämlich die Lenneper Kaufmannsgesellschaft. Sie lag um 1900 an einer der schönsten Öffentlichen Anlagen Lenneps, mit der an den deutsch-französischen Krieg 1870/71 erinnernden Friedenseiche und dem durch die Lenneper Firma Wender & Dürholt kunstvoll errichteten Stallgebäude von Frau Kommerzienrat Arnold Hardt. Dies lädt uns sein, uns einmal geschichtlich mit der Kaufmannsgesellschaft zu befassen.
Im Bergischen Land wie anderswo war es im 19. Jahrhundert üblich, sich nur nicht in Schützen-, Turn- oder Gesangsvereinen, sondern auch in sog. Politischen Clubs und Gesellschaften zusammen zu tun, um der einen oder anderen politischen Meinung, der geschäftlichen Betätigung oder auch nur dem bloßen Wohlleben nachzukommen. So bildete sich z.B. in Lennep 1848, also zur Zeit der Bürgerlichen Revolution und Frankfurter Paulskirche, eine Parlamentsgesellschaft, die gegenüber des Berliner Hofs eine Zeit lang eine Etage gemietet hatte. Schon zur Zeit der Französischen Revolution gab es die Clubisten und Demokraten, und beide Bezeichnungen waren von Seiten der Obrigkeit als Schimpfwort zu verstehen. Der Handwerksstand traf sich in der Gesellschaft Union auf dem späteren Kaufhausgelände Ecke Wupper- und Kölnerstraße. Die Mitglieder der einzelnen Gesellschaften rekrutieren sich also aus den Angehörigen der damals durchaus noch recht unterschiedenen Stände, u.a. der Handwerker und Kaufleute. Die sog. gehobenen Schichten legten keinen Wert darauf, sich für die anderen Menschen sichtbar in einer normalen Wirtschaft zu treffen. Meist ging es auch um Geschäfte, deren Vorbereitung oder Nachbeurteilung nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Für die „besseren“ Kaufleute war ein solch eigener Treffpunkt die für den ganzen Kreis Lennep wichtige Kaufmannsgesellschaft an der heutigen Bergstraße (damals noch Bahnhofstraße) in Lennep, die 1878 durch allerhöchste Kabinettsorder die sehr begehrten preußischen Korporationsrechte erhielt.
Es sind aus jetziger Sicht aber schon insgesamt rund 210 Jahre vergangen, seit in einer Lenneper Privatwohnung über die Gründung einer solchen Vereinigung die ersten Gespräche geführt wurden. Das genaue Datum war der 28. Januar 1799. Die Mitglieder trafen sich damals ein oder zweimal die Woche, um sich bei einem Glas Wein über die Neuigkeiten der sehr unruhevollen Zeit zu unterhalten. Die junge Gesellschaft, die in dem großen altbergischen Hause der Markt-Apotheke gegenüber der späteren Buchhandlung Schmitz montags und freitags ihre gut besuchten Zusammenkünfte abhielt, musste wohl in ihren ersten Jahren ziemlich kurz treten. Immerhin konnte nach der Gründung eine Billardausrüstung angeschafft werden, und es wurde beschlossen, Zeitungen und Zeitschriften zum Vergnügen zu halten. Um zu mehr Einkünften zu gelangen, soll man zeitweise sogar eine Ziegelbrennerei betrieben haben, aber statt Geld zu gewinnen verlor man bei dieser Unternehmung eine ansehnliche Summe.
Als man sich im Jahre 1802 in der Lage sah, für die Armen in der Zeit der allgemeinen Not eine Suppenküche bereit zu stellen, erlebte man eine arge Enttäuschung. Denn niemand mochte diese Suppe essen. Verärgert kommentierte der Vorstand: Allein der verwöhnte Geschmack der hiesigen geringen Klasse von Menschen verursachte, dass dieses gutgemeinte Projekt scheiterte. Mehr Dank erntete man, als einem in des Wortes wirklicher Bedeutung Abgebrannten in Radevormwald 150 Taler Unterstützung gewährt wurden, jedoch verschlang „ein durch den Ökonomen verursachtes Defizit den Rest des Barvermögens“, Weinverbrauch und Kassenstand der Gesellschaft waren nicht überein zu bringen. Aus heute nicht mehr zu ermittelnden Gründen wurde 1810 beschlossen, die Damen, die bis dahin an allen Veranstaltungen hatten teilnehmen dürfen, in ihrer Behausung zu lassen. Doch bei dieser Einschränkung blieb es nicht allzu lange. Nach den Freiheitskriegen 1813-1815 stieg die Zahl der Mitglieder recht schnell an, und die bisher gemieteten Räume, auch die im sog. dritten Lenneper Rathaus direkt an der Stadtkirche, wurden zu eng. So nahm man 1827 ein Angebot an, die erste Etage des 1791 erbauten Steinhauses zu mieten, das später teilweise als Rathaus, Gericht und Sparkasse diente und 1945 durch Bomben zerstört wurde. Nahezu ein halbes Jahrhundert verblieb die Gesellschaft dort, auch als im Parterre die Stadtverwaltung eingezogen war.
Recht beachtlich war der Getränkekonsum der Gesellschaft. Von Bier ist in alten Berichten nicht die Rede, doch wird bereits für 1832 registriert, dass man 4000 Flaschen Rheinwein, 1300 Flaschen Mosel, 1400 Bleichert (hellroter Ahrwein) und 300 Flaschen Bordeaux konsumiert habe. Während der Sommermonate traf man sich in Gartenlokalen; hier wiederholt gewechselt. So mietete man z. B. für die Sommermonate 1875 und 1876 den Garten und die Kegelbahn des Berliner Hofs.
Seit längerem hatte man auch überlegt, auf Dauer ein eigenes Heim zu begründen und zu diesem Zweck einen Fonds angelegt. Da zu den Mitgliedern der Gesellschaft vor allem begüterte Kaufleute, Fabrikanten, deren „höhere Beamte“ und einige wichtige Politiker gehörten, konnte man daran gehen, ein respektableres Gesellschaftshaus ins Auge zu fassen. So wurde 1876 zunächst schräg unterhalb des Lenneper Bahnhofs der große Hilgersche Garten zum Preis von 7500 Mark erworben. Die Mittel für den Neubau wurden durch Ausgabe von verzinslichen Schuldscheinen beschafft. Die Planung und Bauarbeiten, die sich wegen mehrerer Erweiterungen über Jahre hinzogen, übernahm die Firma Albert Schmidt. Bereits im Juni 1877 konnte die Kegelbahn eröffnet werden, ein guter Grund, schräg gegenüber im Bahnhofrestaurant bei F. Gross ein opulentes Festessen zu geben, im eigenen Hause war dies damals noch nicht möglich. Übrigens war der Baumeister Schmidt bei solchen Feiern in diesen Jahren nicht eingeladen, er gehörte nicht zum Gehobenen Stand und war im Berliner Hof bei der geheimen Abstimmung durch Ballotage, d.h. einer verdeckten Abstimmung mit weißen und schwarzen Kugeln zum Eintritt in die Loge, aus eben diesem Grund zunächst abgelehnt worden.
Der großzügige und zweckmäßige Bau der Kaufmannsgesellschaft wurde im Oktober 1877 dann seiner Bestimmung übergeben, natürlich mit einem großen Fest. Das Menü kostete sechs Mark, eine stattliche Summe. Für die musikalische Umrahmung sorgte die Kapelle des 16. Infanterie-Regiments und abends gab es ein großes Feuerwerk. Als anerkennenswerte Leistung verzeichnete ein Chronist damals die Tatsache, dass bei diesem Fest 300 Flaschen Wein „verschiedenen Wachstums, meistens von dem vortrefflichen 1874er Jahrgang“ sowie 100 Flaschen Champagner getrunken worden seien. Die Baukosten des Hauses waren von 80000 Mark beim Voranschlag auf 120000 Mark geklettert. Dafür war das neue Heim sowohl außen wie auch innen ausgesprochen prunkvoll gestaltet und luxuriös eingerichtet. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg legten davon im sog. Großen Saal die Kristallspiegel, Uhren, Kandelaber und bronzenen Figuren ein beredtes Zeugnis ab. Diese Einzelstücke waren von einzelnen Mitgliedern zum Wohle des Ganzen großzügig gestiftet worden. Nach dem Einzug in das neue Haus begann für die „Kaufmannsgesellschaft“, die eigentliche Glanzperiode mit vielen Festen und Veranstaltungen. Da man mit dem Weinkeller nicht auskam, wurde 1888 ein zweiter Weinkeller unter dem Garten angelegt. Ein Umsatzrekord wurde 1895 mit 21507 Flaschen Wein erreicht. In meinem Lenneparchiv fand ich u.a. eine Postkarte, mit der die Kaufmannsgesellschaft zu einem Bowlen-Abend einlud. Das war nur ganz kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs, nämlich im Juli 1914. Damals war das Publikum schon längere Zeit nicht mehr das ganz vornehme, aber der Vorstand der Gesellschaft lud nichtsdestoweniger formvollendet für abends um 8 Uhr zum Herrenabend ein, und zwar zum Erdbeer-Bowlen-Abend. Freundlichst wurde man gebeten, die Teilnahme auf „angebogener Karte anzumelden, damit für ein genügendes Quantum Bowle vorgesorgt werden kann“. Das Glas kostete übrigens 25 Pfg., der Liter 1 Mark 50, und die Musik beim Fest war „gestiftet“.
Zwar berichteten die damaligen Chroniken und Zeitungen zumeist nur über die mitunter glanzvollen Festlichkeiten, die in dem großen neuen Gebäude stattfanden, jedoch traf man sich hier nicht nur zu Festen und Feiern. Es ist bekannt, dass in der Lenneper Kaufmannsgesellschaft über viele Jahre hinweg wichtigere Entscheidungen für die Bergische Politik getroffen worden sind als im Lenneper Landratsamt oder im Rathaus. Natürlich war auch der Lennneper Landrat Mitglied und hielt sich sozusagen dienstlich in der Kaufmannsgesellschaft auf. Großzügig versorgte man auch die in der Kreisstadt Lennep häufig verkehrenden auswärtigen Mitglieder der Bergischen Handelskammer, der Textilberufgenossenschaft und des Kreisausschusses unentgeltlich mit Eintrittskarten zur Gesellschaft. Diese großzügige Geste lohnte sich immer, denn schon damals wusste man, dass man bei einer Flasche Wein manche Frage besser lösen kann, als in heftiger Diskussion vor der breiten Öffentlichkeit.
Die „Kaufmannsgesellschaft“ führte ihr großes Haus bis gegen Ende der 1920er Jahre. Auch wenn die normalen Bürger als Gäste längst den eigentlichen Umsatz brachten, so war das Etablissement noch lange Zeit kein Billiglokal. Es existieren noch Fotos von den großen Bällen zum Karneval und den Gesellschaften aus Anlass von Hochzeiten und Geburtstagen, auf denen Personen bekannter Lenneper Familien zu sehen sind. Da hält so mancher Domino seine dralle Göttin auf dem Schoß und der Scheich scherzt mit Madame Pompadour. U.a. ist ein seinerzeit bekannter Lenneper Augenarzt zu sehen, in dessen Haus seit längerer Zeit jetzt die Polizei residiert. Dann, als die Weltwirtschaftskrise nicht nur hier den Zusammenbruch bewirkte, übernahm der bisher angestellte Geschäftsführer das Haus in eigener Regie. Kriegszerstörungen und Umbauten führten zu entscheidenden Veränderungen des einstigen Prachtbaues. Auch die einst besonders schöne Fassade wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen. In den 1950er Jahren hieß es in der Zeitung: „Aber auch heute noch steht die Kaufmannsgesellschaft im Dienst der Gastlichkeit“. Für die damalige Zeit stimmte das durchaus, da ja in Lennep eine ganze Anzahl von Wirtschaften und Versammlungsmöglichkeiten, insbesondere in der sog. Neustadt vorübergehend oder für immer kriegsbedingt nicht mehr einsatzfähig war. Ich kann mich noch gut erinnern, dass in dieser Zeit die Gaststätte zu Post, wie die Kaufmannsgesellschaft seinerzeit hieß, von vielen Vereinen genutzt wurde. Beispielweise hielten die vertriebenen Schlesier dort ihre Treffen ab und luden zum Wellfleisch, einem Nationalgericht der Schlesier, das aus mit „geheimen“ Gewürzen gekochtem Schweinebauch und Schweinebäckchen besteht. Ähnlich wie das Schlesische Himmelreich schmeckt dies vielleicht in Lennep nicht jedem, andererseits sind Sauerklops, Panhas und Puffelskuchen ja auch nicht jedermanns Sache. Jedenfalls war die feine Zeit des Etablissements nun endgültig vorbei, und es gab keine Speisekarte mehr, an deren Rand unten der schöne Spruch stand: Edler Wein und guter Sinn, steck` im Haus und Keller drin. „Mailänder Pastete mit Halbmöndchen“ gab es auch nicht mehr, und die ehemals umfangreiche Weinkarte war wahrscheinlich auf die Frage reduziert: rot oder weiß, Rhein oder Mosel, wobei trocken eher nicht gefragt war. Übrigens hatte im zweiten Weltkrieg nicht nur die Kaufmannsgesellschaft was abgekriegt, sondern auch die davor stehende Friedenseiche, erst neulich schrieb mir ein seinerzeit im Bereich der Gartenstraße spielender Lenneper, dass der Baum größere Löcher aufwies und die Rinde durch Bombensplitter erheblich beschädigt war, was man damals durch gut gemeinte Zementpackungen zu heilen versuchte. Erstaunlicherweise erholte sich die Eiche nach und nach.