Im Herbst 2017 übergab mir eine Dame in Lennep ein gerahmtes historisches Zeitungsblatt aus dem Jahre 1832. Sie teilte mir zuvor per Mail mit, dass das „Bild“ aus der Wohnungsauflösung einer Freundin stamme und sie sich freue, damit noch etwas Sinnvolles anfangen zu können. Es handelte sich um um ein Doppelblatt des Lenneper Kreisblatts vom Mittwoch, dem 4. Januar 1832. Neben einem historischen Rückblick auf die „Feier des Neujahrtages“ in den europäischen Ländern, der Angabe des aktuellen Geldkurses, der Frucht- und Branntweinpreise sowie einem Hinweis auf einen Ball bei J.P. Karthaus in Radevormwald am zukünftigen Sonntag ist unter der Rubrik „Anzeigen“ vor allem eine „Empfehlung“ der Lenneper Firma E. und W. Grüderich abgedruckt. Eine Großmutter der jetzigen Erblasserin hatte, so ermittelte die Übergeberin des Objekts, um 1900 bei der Familie Grüderich in Dienst gestanden, es handelt sich also um eine Erinnerung an eine Arbeitgeberfamilie im alten Lennep.
Gerahmtes Doppelblatt des Lenneper Kreisblatts vom Mittwoch, dem 04. Januar 1832 und Ausschnitt betreffend die in diesem Jahr gegründete Lenneper Chemie- und Lackfabrik E. und W. Grüderich.
Aber wer waren diese Familie und diese Firma eigentlich? Mir und meiner Familie sind sie durchaus bekannt und gerade in der letzten Zeit werde ich bei Lennepführungen bzw. per Anfrage des Öfteren danach gefragt. So mancher „alte“ Lenneper erinnert sich noch daran, dass in der Franz-Heinrich-Straße nahe des Stadions früher eine Lackfabrik gestanden hat, deren zwischenzeitlicher Eigentümer ein Franz Heinrich Müller war, der der Straße den Namen gab, und von dem ich noch eine Ehrenurkunde des Verbands Deutscher Lackfabrikanten aus dem Jahre 1919 verwahre. Der Name Grüderich ist ja für Lennep schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts nachgewiesen. Es existieren sogar noch Fotos aus der Nachkriegszeit und aus der Abrisszeit Mitte der 1980er Jahre, auf denen teilweise das Schmelz- und Sudhaus, das Tanklager und die Fabrikation der Firma zu sehen sind. Die Familie Grüderich gehörte in den Umkreis der mittelständischen Handwerker- und Fabrikantenfamilien der Dürholts, Haas, Lisners, Schmidts und Wenders in Lennep, der offizielle Firmensitz war lange Zeit in unmittelbarer Nähe an der Wupperstraße 11 angesiedelt, und im Bereich der Lenneper „Histörchen“ gibt es gibt eine Anekdote, dass ein allzu pedantischer Firmenchef immer auf Tag und Stunde genau auf Geschäftsreise zum Bahnhof schritt und zurückkam, wegen seiner rosa Gesichtsfarbe nannte man ihn damals das „Röschen“.
Rechnungsbrief der Lenneper Firma E. und W. Grüderich nach Cassel vom 26. August 1846 und Sitz der „Lackfabrik“ in der Lenneper Franz-Heinrich-Straße, benannt nach dem Lackfabrikanten Franz-Heinrich Müller, um 1985. Weiterhin eine historische Aufnahme der späteren Franz-Heinrich-Straße mit den Gebäuden der Fabrik Mitte rechts. Man sieht auch die Linden der Wupperstraße und die gerade bearbeitete Lenneper Abfallkippe, auf der dann 1925 das Stadion entstand.
Aber nun wieder zurück zu unserem Zeitungsblatt aus dem Jahre 1832. Die Werbung der Firma Grüderich dort war wahrscheinlich die allererste der Lenneper Firma, denn später bis noch in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinein warb sie damit, just in diesem Jahre 1832 gegründet worden zu sein. „Qualität seit 125 Jahren“ hieß es auf dem späten Rechnungsformular. Wie aber hatte alles begonnen? Angefangen hat es mit dem seinerzeit beliebten Prager bzw. Pressburger Schnell-Tinten- Pulver, das ein gewisser Dr. Marini erfunden hatte, und das durch eine bloße Mischung mit kochendem Wasser eine sogleich brauchbare und dauerhafte Tinte lieferte. So etwas konnte man sicherlich auch gut im Kreis Lennep und darüber hinaus verkaufen, zumal das Produkt nach den Angaben der Familie Grüderich gleich mehrere positive Eigenschaften vereinigte, nämlich Güte, Bequemlichkeit und Wohlfeilheit. Zugleich empfahl die Lenneper Firma in der Zeitungsannonce damals noch ihre echte englische permanente Zeichentinte, zum Zeichnen auf Leinen, Hemden, Bett-, Handtüchern etc. Garantiert konnte diese Tinte durch Waschen und Bleichen „nicht vertilgt“ werden. Weitere Produkte waren die beliebte holländische „Bitter-Essenz sowie Material- und Farbwaren“. Schon früh also gab es Ansätze zur lange später kurz so genannten „Lackfabrik“ in Lennep, die sich selbst über weite Strecken der Geschichte auch als „Chemische Fabrik“ bezeichnete. In meinen Unterlagen gibt es noch einen originalen Rechnungsbrief vom 26. August 1846 an einen Bezieher in „Cassel“ sowie Fotos aus der unmittelbaren Nachkriegszeit 1949, auf denen man das Schmelz- und Sudhaus, das Tanklager und weitere Firmenteile an der Franz-Heinrich-Straße erkennt. Auch aus dem Jahre 1984 sind noch Fotos der Gebäude überliefert, 1986 dann entstand an gleicher Stelle ein moderner Bau der Lenneper Firma „Marmor Florath“. Soweit die Erinnerung an eine alte und lange bedeutende Lenneper Firma, hier hervorgerufen durch eine frühe Werbeanzeige im Lenneper Kreisblatt von 1832, aufbewahrt in einer Familie, deren Großmutter einst bei der der genannten Firma „in Stellung“ war.
Zwei Schützenkaiser aus Lenneper Familien: Friedrich Wilhelm Steckel (links) und Heinrich Wilhelm Neuhaus (rechts)
Aus den Alben Lenneper Schützenfamilien: Festumzug mit Schützenkaiser durch die Stadt am Kaiserplatz vorbei (links), Trauerzug mit Aufbahrung am Kölner Tor.
Als ich jetzt den gerahmten Zeitungsteil erhielt, waren dabei auch noch zwei Fotos einer anderen Lenneper Familie beigefügt, die ebenfalls weiter in die Lenneper Geschichte zurückgreifen. Neben einem Foto zu einem Lenneper Zupforchester, das im Jahre 1931 gegründet worden war, erhielt ich von der Übersenderin des hier zuvor behandelten frühen Zeitungsteils ein weiteres Foto mit der Bemerkung, dass der Großvater Friedrich Wilhelm Steckel Kaiser im Schützenverein Eintracht gewesen sei. Das Farbfoto, ein wirkliches Lenneper Schätzchen, zeigt einen alten Herrn im vollen Ornat seiner Schützenuniform. Dies erinnerte mich sogleich an ein anderes Schützenfoto, das ich vor etwa fünfzehn Jahren von einer Dame aus der Lenneper Familie Neuhaus erhalten hatte, die vor mehr als einhundert Jahren an der Schwelmer Straße eine Seilerei betrieben hatte, an der Ecke, wo um 1907 damals neu die Schillerstraße entstand, wobei die lang gestreckte, gerade Seildrehanlage, man kann auch sagen, eine ursprüngliche Lenneper „Reeperbahn“ abgerissen werden musste. Zusätzlich zum Königsschießen gibt es in manchen Schützenvereinen auch die Möglichkeit zu einem Schießen um den Titel eines Schützenkaisers, an der in der Regel nur ehemalige Schützenkönige teilnehmen dürfen. Auch wenn sie sicherlich nicht vom selben Alter waren, so ist doch schön, sich die beiden Lenneper Schützenkaiser aus den Familien Steckel und Neuhaus als würdige Repräsentanten des Lenneper Brauchtums zu vergegenwärtigen, und es kommt nun noch dazu, dass auch in der Familie Neuhaus das Andenken an die erste Zeit des Lenneper Kreisblatts hoch gehalten wurde. Davon zeugt ein Foto, auf dem Opa Neuhaus auf einem Porträtfoto mit der Erstausgabe der Zeitung abgebildet wurde. Auf das Foto wurde später noch über dem Titelkopf eigens mit Tinte nachgetragen: Nr. 1. – 1830. So manches historische Foto existiert ja noch in Lennep auch von früheren Schützenumzügen, bei denen die Schützenkaiser und sonstigen Respektspersonen in Kutschen vorne weg gefahren wurden, und bei ihrem Ableben wurden noch nach dem zweiten Weltkrieg die Särge auf sog. Lafetten, die ganz früher zum Transport von Geschützen gedient hatten, zum Friedhof gefahren.
Erstausgabe des Lenneper Kreisblatts als Faksimile in Carl vom Bergs Geschichte der Stadt Lennep -Urkundenbuch-, Lennep 1900 (links) und Foto des Seilereibesitzers Heinrich Neuhaus mit der Erstausgabe.
Es scheint in den Lenneper Familien weit verbreitet gewesen zu sein, frühe Ausgaben des Kreisblatts zu verwahren, allerdings nur, sofern darin etwas über die eigene Familie oder besonders interessierende Vorkommnisse stand. Wer verwahrt bzw. sammelt sonst schon alte Zeitungen, das war früher nicht anders als heute, zumal man sie auch gut für praktische Zwecke verbrauchen konnte, zum Beispiel beim Feuer anmachen. Bei Heinrich Wilhelm Neuhaus, den man in unserem Beitrag mit der Erstausgabe des Lenneper Kreisblatts sieht, er ließ sich ja eigens damit professionell festhalten, war das wohl anders. Er gehörte nämlich in Lennep zu einer kleinen Schar besonders Interessierter, die in den Jahren 1922/1923, natürlich im Lenneper Kreisblatt, über das alte Lennep schrieben. Zu dem Kreis gehörte z.B der Bäcker Otto Seufzer sen., der Baumeister Albert Schmidt, der Hauptschriftleiter beim Kreisblatt „Fritz aus dem Wieschen“, in Wirklichkeit Richard Thielmann, weiterhin Kapitän a.D. Paul Windgassen und mehrere altvordere Handwerker und Schulleute mit historischem Interesse. Ursprünglich umfasste übrigens das Lenneper Kreisblatt nur vier Seiten. Unsere Abbildung der Erstausgabe zeigt die Titelseite der vom Rektor der Evangelischen Stadtschule, Johann Heinrich Müller (1774-1841), gegründeten Zeitung, und die erste Seite zeigt an, was seinerzeit ihr Ziel war: „Haupttendenz des Blattes sey schnellere Verbreitung der von der landräthlichen und jeder anderen obrigkeitlichen … Behörde des Lenneper Kreises … ausgehenden … Verfügungen“. Aus diesem Grund sprach der damals amtierende Landrat von Bernuth (1797-1882) dem Lenneper Drucker und Verleger der neuen Zeitung, Heinrich Schumacher, auf der vierten Seite der Erstausgabe auch eine spezielle „Empfehlung“ aus. Das heutige Rotationstheater und das Rotationscafé erinnern in Lennep an der Kölner Straße 10 noch an den einstigen Druckort. Obwohl das damalige Blatt in erster Linie amtlichen Charakter hatte, fanden die Leser doch auch historische Betrachtungen, Anekdoten und Rätsel darin. Schon in der Erstausgabe war von dem französischen Marschall Villars die Rede, der betrunken vor dem König von Sardinien zu Boden fiel und die Situation zu retten suchte, indem er sprach: „Sie sehen, Euer Majestät, wie ganz natürlich ich Ihnen zu Füßen falle“. Zuletzt wollen wir noch ein Silbenrätsel der Erstausgabe zitieren, damals im 19. Jahrhundert meist „Charade“ genannt:
Wohl manches Verhältniß ist schwer zu ergründen,
viel leichter ist jedes doch endlich zu finden,
Als deß, was die erste der Sylben uns nennt,
in der man des Ewigen Abbild erkennt.
Wir blicken der zweiten mit Sehnsucht entgegen nach Schrecken des Winters,
nach kältendem Regen.
Bald schmückt sie, gelocket vom sonnigen Strahl,
die Flur in unendlich vervielfachter Zahl,
Das Ganze, o möchte dem Frühling es gleichen,
den selten noch Nachtfrost und Stürme erreichen!
O senkte sein Sommer sich fruchtreich herab,
und stiege es spät erst mit Ehren ins Grab!
Das Lösungswort der Charade ist übrigens „Prachtflor“. Der Begriff war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch sehr gebräuchlich, wird aber heutzutage selten, weil veraltet, und nur in spezielleren Zusammenhängen benutzt.
Fotos dieses Beitrags: Lenneparchiv Schmidt.