Vorbemerkung
Der nachstehende Text ist eine mit vermehrtem Bildmaterial versehene Version eines Beitrags des Verfassers in Romerike Berge – Zeitschrift für das Bergische Land. Hrsg. vom Bergischen Geschichtsverein, 65. Jahrgang, Heft 3, 2015. Eine auch textlich erweiterte Version ist beim Verfasser erhältlich.
Warum Ommerborn? Ein vergessener Autor wird wieder ein Thema?
Im Jahre 2008 brachte anlässlich einer Ausstellungseröffnung im Lenneper Tuchmuseum ein Besucher ein abgegriffenes Buch mit, einen Roman, der wohl in Lennep spielen solle, von früher, aus dem 19. Jahrhundert, und Straßen, Plätze und Lokale, die man noch heute kennt, kämen darin vor, wie die Knusthöhe und die Kölner Straße, die einstige katholische Elementarschule und die schräg gegenüber liegende ehemalige Mädchenschule an der Mühlenstraße. Der Autor muss, das bemerkt man bei der Lektüre gleich, Lennep gut gekannt haben. Sein Name ist Johann Christian Josef Ommerborn (1863-1938). Das heute noch in Bibliotheken vorhandene Buch trägt den Titel Pastor Hans Kroppmann und wurde 1922/23 im Verlag der „Bücherei Montanus“ in Barmen-Wichlinghausen veröffentlicht. Von Autor und Verlag wird es als zeitgeschichtlicher Roman bezeichnet.
Ommerborns unterschiedliche Biographien
Man wird sich fragen, wie Johann Christian Josef Ommerborn überhaupt zum Thema Lennep kam? In den heutigen Literaturlexika kommt der Schriftsteller kaum noch vor, auch wenn im Jahre 1979 noch ein Erzählband mit dem Titel Von Oberberg bis Niederrhein erschien. Die Lexika der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellen den Lebenslauf Ommerborns so dar: Geboren am 28. 04. 1863 in Lennep als ältestes von fünf Kindern des Kaufmanns Johann Carl Ommerborn, genoss er eine Privaterziehung und betrieb danach wissenschaftliche Studien. Als Schriftsteller schrieb er unter Pseudonymen wie Karl Christiansen, Joh. Jos. Christiansen, Alphons Born-Ommer, Stian Merbo, Franz (von) Ullmann sowie Paul Börner. Der mehrfach Verheirate war nach diesen Schilderungen beruflich zuerst Fabrikbeamter, später Schriftsteller, Journalist, Öffentlicher Redner, politischer und religiöser Volkserzieher sowie Geschäftsführer einer „Sozialästhetischen Vereinigung für Deutschland“. Ommerborn lebte überwiegend in Barmen, Körne bei Dortmund, dann in Unter-Barmen und um 1906 kurze Zeit unter der Berufsangabe Schriftsteller und Journalist in Frankfurt/Main. Von 1902 bis 1907 war er Chefredakteur der Zeitschrift „Natur-, Haus- und Volksarzt“ und Herausgeber der „Modernen Feuilletonistischen Korrespondenz“. Seit 1908 lebte er als freier Schriftsteller in Emmendingen/Baden, später in Schaffhausen, zuletzt als Leiter der von ihm Herbst 1927 ins Leben gerufenen Landstraßen-Mission in Barmen. Er gab als Schrift- und Missionsleiter auch die „Vierteljahres-Hefte“ dieser Mission heraus. Ommerborn starb am 31. Mai 1938 in Barmen.
Derartige Lebensbeschreibungen Ommerborns kontrastieren allerdings sehr stark mit den Ergebnissen späterer Forschung. Zudem stößt man bei der Internetrecherche auf zusätzliche Nachweise im Zusammenhang der Anarchismusbewegung und der Geschichte der Kriminalliteratur. Insbesondere ein Autor beschäftigte sich sehr intensiv mit Ommerborns Biografie und seiner politischen Entwicklung. Er lernte dabei auch Nachfahren Ommerborns kennen und besitzt einen großen Teil seiner literarischen Produktionen. Aus seinen Recherchen ergibt sich eine durchaus unterschiedliche Biographie des Schriftstellers J.C.J. Ommerborn: Danach zogen die Eltern schon sehr bald nach dessen Geburt in Lennep nach Barmen, und er heiratete dort 1885 eine stellenlose Schauspielerin. In der Folgezeit schloss er sich unterschiedlichen politischen Strömungen an. Der gänzliche Autodidakt besaß augenscheinlich einen immensen Zug zum Höheren. Er war ein durch und durch unruhiger Geist, ein Getriebener mit Anzeichen psychischer Erkrankung. Aus finanzieller Not heraus schrieb Ommerborn zwischen 1905 und 1909 ein Dutzend trivialer Kriminalerzählungen.
Bei den Recherchen für diesen Aufsatz fand sich noch eine eigenhändige (Teil-) Biographie des Schriftstellers aus dem Jahre 1919. In den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg plante die Landes- und Universitätsbibliothek Bonn eine Großdokumentation rheinischer Gelehrter und Literaten und schrieb aus diesem Grunde Persönlichkeiten mit der Bitte an, ihr einen Lebenslauf und ein Foto zu überlassen. Auch Ommerborn wurde kontaktiert und antwortete folgendermaßen:
Barmen R, Jägerstr. 41 den 9. XII./19 – An die Universitätsbibliothek Bonn. – Auf Ihren Wunsch über meine Person folgendes: Ich wurde am 28. Apr. 1863 in Lennep geboren. Mein Vater entstammt einem alten, in der Geschichte Westdeutschlands oft sichtbaren Geschlecht des bergischen Landes. Unter anderem brachte mein Urgroßoheim Johann Peter O. die bergischen Bauern … gegen Napoleon auf … 1910 errichtete man ihm in Sand bei Bensberg ein Denkmal. Mein Vater blieb zeitlebens in den gesellschaftlichen Niederungen. Von ihm habe ich die Lust zu fabulieren und die ausgeprägte soziale Anteilnahme, auch das tiefgehende religiöse Bedürfnis geerbt. Meine Jugend war ein Wildwuchs in der Armutswüste. Außer der Volksschule, in der ich nach dem Entlassungszeugnis (Barmen) der beste und besonders begabte Schüler gewesen, blieb mir eine ordentliche höhere Schulbildung verschlossen. Andererseits betrieb ich schon früh auf eigene Faust Sprachen, Geschichte und Literatur. Bis zum 30. Lebensjahre bestritt ich meinen und der Meinen täglichen Bedarf als Fabrikarbeiter und gehörte ich der soz. dem. Partei an. Später nahm ich an dem philosophischen Anarchismus Gustav Landauers … Anteil. Schwer damals kam ich ins Erzählen, fand aber erst mit meinem 46. Lebensjahre den entsprechenden Anschluss. Seitdem schrieb ich eine Reihe Erzählungswerke. Als größere: „Die Kinder der Sünderin“ 1910, „Saulus“ 1911, „Arbeite“ 1912, „Genosse Mensch“ 1913, „Der Oberamtmannshof“ 1919, und zwischenher an kleineren Buchwerken „Die ihr mühselig und beladen seid“, „Die Liebe sucht nicht das Ihre“, „Die Dorfgeister von Birkenloh“, „Das arme Trautchen“, „Der Drehorgelshendrich“ u.a.. Es ist nie mein Bestreben gewesen, Bücher zu schreiben, dass ich sie schrieb und schreibe, war lediglich meine Parteinahme für die letzten der Gesellschaft. Dieser ausgesprochenen Parteinahme entspricht auch die Tendenz meiner Bücher … Johann Christian Josef Ommerborn. (Das Original dieser handschriftlichen Eigendarstellung Ommerborns befindet sich in der Autographensammlung der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn).
Ommerborns Roman Pastor Hans Kroppman – ein Schlüsselroman?
Gegenstand des 1922 erschienenen Romans ist die Entwicklungsgeschichte eines Pfarrers, der als katholisch getauftes Proletarierkind zur Welt kam, sich später aber zum evangelischen Pastor entwickelt. Intensiv werden die viel zitierte Pastorenfreiheit („Das kann man machen wie der Pfarrer Assmann“) und die damaligen ideologischen Gegensätze in der Rheinischen Landeskirche hervorgehoben. Die Kenntnis der Kreisstadt Lennep ist bei der Lektüre des Romans Pfarrer Hans Kroppmann durchgängig bemerkbar. Nicht nur der Autor, sondern auch sein Romanheld wurde in Lennep geboren, und dies sogar im gleichen Jahr 1863. Von daher drängt sich die Frage auf, hat der Autor Lennep wirklich sehr gut gekannt, die dortigen Verhältnisse, die örtliche Entwicklung der sozialen Frage, die armen und die reichen Leute, die Tuchindustrie und die dort arbeitenden Menschen? Der mit vielen Seitenaspekten versehene Roman entwickelt seine Hauptlinien parallel zu einander, u.a. trägt er auch Züge eines Familien- und Liebesromans. Aufgrund der geschilderten Nähe zu Lennep und den umliegenden Ortschaften ist sicherlich die Frage zu stellen: ist der Roman Pastor Hans Kroppmann also ein Lenneper Schlüsselroman, ein Roman, der tatsächliche Lenneper Verhältnisse durchschaubar verändert schildert? Natürlich interessieren wir uns als Leser umso mehr, wenn es spannend und tragisch wird, wenn es uneheliche Kinder, Morde an bekanntem Ort und Hinterhältigkeiten gibt, deren Beteiligte wir zu kennen glauben. Und tatsächlich kommen im Roman Pastor Hans Kroppmann Personennamen vor, die man als Lennepkenner meint, sogleich entschlüsseln zu können. So z.B. der Fabrikantenname Larsch. Er kann uns heute an die wirkliche Familie Karsch erinnern, die wie die Familien Wülfing, Schröder, Hardt, Bauendahl usw. eine wichtige Rolle für die Lenneper Wirtschafts- und Sozialentwicklung im 19. Jahrhundert gespielt haben.
Ommerborns kaum verdeckende Umformulierungen von Ortsbezeichnungen
Obwohl Ommerborn in seinen bergischen Romanen Ortsnamen durchgängig nicht im Original formuliert, so ist doch den regionalen Lesern in der Regel bewusst, welche er anspricht. Was Lennep und die Umgegend betrifft, so ist bereits mehrfach bemerkt worden, dass mit Lempe natürlich die damalige Kreisstadt gemeint ist, in der er selbst geboren wurde, deren umgangsprachliche Bezeichnung war ihn natürlich bekannt. Nicht ganz so einfach verhält es sich mit der Nennung von Hilverkusen, jedoch ist ganz augenscheinlich Lüttringhausen gemeint, was sich nicht nur aus der Handlung des Romans, sondern schon aus der dem ähnlichen Klang der Bezeichnung ergibt. Es liegt in seinem Roman vor Rongesdrop, das man als Ronsdorf wiedererkennt. Es wurde auch bemerkt, das es einen Viehmarkt in Lüttringhausen tatsächlich nahe der Stadtkirche gab, wo sich in der Nähe auch die von Ommerborn mehrfach erwähnte Tillmanns’sche Wirtschaft befand. Dem Leser kommt weiterhin die Dikmannsbeek zwischen Lennep und Lüttringhausen bekannt vor, weil sie eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Gemarkung Diepmannsbach hat. Mit dem mehrfach erwähnten Engelkusen könnte gut Englinghausen gemeint sein, wohin bekanntlich die alte Gasse führte, die später zur Elberfelder bzw. heute Lüttringhauser Straße wurde. Diese Beispiele, die man bezüglich des Kroppmannromans wesentlich erweitern könnte, hatten natürlich den Zweck, das geschilderte Geschehen für den regionalen Leser interessant zu machen, weil dieser die eigentlichen Örtlichkeiten ja kannte und das geschilderte Geschehen so für lesenswerter und am Ende sogar für wahrheitsgetreu halten konnte. Dies umso mehr, als Ommerborn viele wirkliche historische Tatsachen und Berichte in seine Romane einfließen ließ, im Kroppmanroman z.B. eine Choleraepidemie in Lennep, worauf wir noch zurückkommen werden. Auch die bürgerliche Revolutionsbewegung der 1848er wird einschließlich ihrer Lenneper Presseauswirkungen öfters erwähnt, allerdings sehr ungenau und mehr unter dem Gesichtspunkt einer beginnenden Linie zu den späteren Sozialdemokraten und Sozialisten hin, versinnbildlicht an Generationen der Familie des Nachtwächters Jacobi und dem Knippschild´schen Vereinslokal an der Kölner Straße, das den Aufbegehrenden mehrerer Epochen die zusammenfassende Bezeichnung „die Knippschilds“ gibt. Bei den vielen Gastwirtschaften an dieser Straße konnte allerdings ein solches Lokal nicht speziell nachgewiesen werden.
Ommerborns Bergisches Platt und lokale Ausdrucksweise
Der in Lennep geborene und lange Zeit in Wuppertal lebende Autor Ommerborn war natürlich mit den Berufsbezeichnungen in der bergischen Tuchindustrie bestens bekannt, Walker, Scherer und Färber kommen bei ihm vor, weiterhin kannte er die Tätigkeiten der Frauen, die als Plüserinnen und Nopperinen Tuche auf Unregelmäßigkeiten untersuchten und beseitigten. Auch sprachlich versuchte Ommerborn, der bergischen Region möglichst, mit manch rheinischen Einflüssen, treu zu bleiben. So spricht er im Text des Kroppmannromans z.B. von der Noberschen, der Hewelschen und dem Krukenstoppen, also der Nachbarin, der Hebamme und dem kleinen Buben. Immer ist das rheinische bzw. bergische Platt im Spiel. Wenn auch die Blagen (Kinder) und Brocken (Kleidungstücke) heute den meisten Lennepern noch gebräuchlich, wenn auch nicht unbedingt wirklich verständlich sind, so wird es doch schon schwieriger z.B. mit den Fabrikwechtern. Ich selbst kann mich an meine Volksschulzeit erinnern, als unsere noch im 19.Jh. geborene Volksschullehrerin uns derartige Ausdrücke beibrachte und damit zum Fortleben des regionalen Sprachschatzes beitrug. Hier seien noch weitere Beispiele gebracht, umso mehr, als der heutige Leser die volkstümliche Redeweise des Bergischen nicht mehr so versteht. Wer kennt noch die Balbäuschen oder Bollebäuskes, die runden, etwa pfirsichgroße Kuchen, die in Öl oder Schmalz gebacken werden? Als Teil der Rheinischen Küche waren sie wie etwa der oder auch das Panhas auch in Lennep bekannt, so wie die Biere und Schnäpse, die in der Regel mit den Namen ihrer Hersteller in der Stadt oder Umgegend benannt wurden. So kommt auch in Ommerborns Roman natürlich der Braselmanns vor, der bei ihm allerdings mit dem Beiwort Schabau versehen wird, ein Ausdruck für Hochprozentiges, der sich in der Franzosenzeit nicht nur in Köln breit machte. Ähnlichen Ursprungs ist sicherlich auch die Redewendung jemandem die Cour schneiden, es bedeutet auf Hochdeutsch: jemandem den Hof machen.
Der Inhalt des Romans im Überblick
Werfen wir nun eine kurzen Blick auf den Inhalt: Der Roman Pastor Hans Kroppmann umfasst 268 Druckseiten und gliedert sich in mehrere Kapitel, die ihrerseits durch markierte Abschnitte unterteilt sind. Am Anfang schildert der Autor die Eltern Hans Kroppmanns vor dem Panorama der Lenneper Wirklichkeit der 1860er Jahre, wobei er oft auch auf die Revolutionszeit von 1848, auf das „tolle Jahr“ zurückgreift. Der Held des Romans wird wie der Autor selber in Lennep 1863 geboren, seine Mutter arbeitet in der Lenneper Tuchfabrik Larsch. Der labile und dem Branntwein zugetane Vater Jul macht die Kriege der 1860er Jahre mit, erhält aufgrund einer Verwundung ein Stelzbein und kommt nach dem Sieg über Österreich bei einem Lenneper Saufgelage, bei dem er als Gelegenheitsmusikant die Ziehharmonika spielt, durch Messerstiche zu Tode. Durch den ganzen Roman zieht sich eine schwierige, freundschaftliche und latent auch erotische Beziehung Kroppmanns zu seiner Kusine Tine, die später wie ihre Mutter in die höchsten Fabrikantenkreise aufsteigt. Der in einem evangelischen Pfarrerhaushalt als Sohn angenommene Hans Kroppmann wird selbst evangelischer Pastor und tritt seine erste Stelle im benachbarten Hilverkusen (Lüttringhausen) an. Im Grunde genommen spielt sich der weitere Verlauf des Romans überwiegend in und um Lüttringhausen ab, wobei aber immer wieder ein Rückbezug auf die Kreisstadt Lennep erfolgt. Der Roman Ommerborns trägt im Verlauf der Geschehnisse auch Züge einer theologischen Grundsatzdiskussion. Pastor Hans Kroppmann wird von seiner Umwelt als Zelot, als fundamentalistischer Eiferer empfunden, der sich kompromisslos aufgrund einer radikal christlichen Einstellung nicht nur die meisten seiner Amtskollegen, sondern auch sein Presbyterium und manchmal auch seine Gemeinde zum Feind macht. Deutlich kommt dabei die Auffassung des Autors zum Ausdruck, dass die Zukunft Preußens in einem menschlichen Sozialismus liege. In einer Zeit, in der nach der überwiegenden Auffassung der anständige Mensch nicht streikte und die Insassen eines Armenhauses weder Mitbürger noch überhaupt wahlberechtigt waren, spiegelt die Haltung des Pastors Hans Kroppmann die Auffassungen Ommerborns selber wieder.
Fiktion und Wirklichkeit am Beispiel der Höheren Mädchenschule in Lennep
Wir wenden uns nun einem Beispiel zu, aus dem ersichtlich wird, wie Ommerborn das geschichtliche Lennep in verfälschender Weise in seinen Roman einfließen lässt. Am Ende des zweiten Kapitels des Romans schildert Ommerborn einen Abschnitt der Geschichte der Lenneper Mädchenschulen. Dort heißt es sinngemäß: Gegenüber der alten katholischen Elementarschule in der Mühlenstraße fing man eines Tages an, neu zu bauen, und bald wusste jedermann, dass die Lemper Reichen hier eine Städtische Höhere Töchterschule durchgesetzt hatten. Eine Ungerechtigkeit fand man darin, dass die Stadt das Erbteil der Fabrikantenfamilie Larsch (in Wirklichkeit: Karsch) dazu benutzte, den Reichen eine solche Schule zu verschaffen. Sie kam noch vor Ende des Krieges 1870/71, und die Töchter der wohlhabenden Lenneper zogen aus der katholischen Elementarschule bzw. der lutherischen Klasse in die neue herrliche Schulvilla. Nur noch „hohe Professoren“ unterrichteten hier, so erzählte man sich. Ommerborn verknüpft hier also Aspekte der Lenneper Schulgeschichte mit seinem Romaninhalt. An seiner Darstellung stimmt jedoch Einiges nicht, z.B. wurde eine Höhere Private Töchterschule, wie in allen fachhistorischen Darstellungen nachlesbar ist, bereits vor 1873 am Gänsemarkt betrieben, und die von ihm beschriebene entstand baulich keineswegs im Deutsch-Französischen Krieg, sondern war einst eine Villa der Lenneper Fabrikantenfamilie Karsch, 1873 jedoch im Eigentum der Firma Joh. Wülfing & Sohn. Obwohl also hier über die Bezeichnung eines Karsch´schen Erbes ein Zusammenhang mit dieser Lenneper Familie hergestellt wird, sind nahezu alle näheren Angaben zum diesem Gesamtvorgang Fiktion bzw. dichterische Freiheit.
Weitere Bemerkungen Ommerborns zu Lennep
Sozusagen genau nach der ersten Hälfte des Romans beginnt Ommerborn ein „zweites Buch“, in dem er sich jetzt überwiegend mit Hilverkusen bzw. Lüttringhausen beschäftigt, da dort nunmehr für längere Zeit der Pfarrbezirk des jungen Pastors Kroppmann angesiedelt ist, der später allerdings auch wieder in seine Geburtsstadt zurückkehrt. In dem ersten Kapitel dieses zweiten Buchs blickt der Autor noch einmal konkret auf Lennep und seine Entwicklung zurück. Die1860er bis 1890er Jahre hat man dort hinter sich gelassen, eine Konzentration der Betriebe hat stattgefunden und die von ihm zuvor eingeführte, jedoch nicht näher bezeichnete, Tuchfabrik beherrscht die westdeutsche Tuchindustrie und diktiert die überregionalen Preise. Das Eisenbahnwesen zeigt sich im Vollausbau mit Güterverkehr und einem Eilzug wesentlich gestärkt, und es entsteht eine Überlegung zu einer elektrischen Straßenbahn, die Solingen, Remmesched, Lempe, Hilverkusen und Rongesdrop verbinden soll.
Ommerborn kommt weiterhin, ohne sie konkret zu bezeichnen, auf die die um 1900 – 1910 aktuelle Architekturbewegung zu sprechen, die seinerzeit Neubauten im Altbergischen Styl entwickelte, die in Lennep beispielsweise vom Elberfelder Architekten Blankenburg mit der Villa des Syndikus Dr. Thilo in der Wiesenstraße vertreten wurde, und von denen in Lennep auch einige Beispiele durch die Architekten Paul Dürholt und seinen Vetter Arthur Schmidt realisiert wurden, man denke z.B. an das damals neue Kontorgebäude von Johann Wülfing & Sohn und die Wirtschaft Behle (Bergisches Haus) an der Kölner Straße sowie an mehrere Landhäuser in den Außenbezirken, wo, so Ommerborn, auf den idyllischen Hügeln schelmische Häuslein und Villen entstanden, in denen der altbergische Baustil nachgeahmt wurde. Die Lemper Menschen hätten dazu gesagt: „Et is doch janz kurijos, et is nix Neues und et is doch wat Neues“. Auch der Lenneper Stadtgarten zwischen Schwelmer und Hackenberger Straße wird von Ommerborn erwähnt, mit Blumenrabatten, weißen Bänken und allerlei mitten hinein gepflanzten Sonderbarkeiten an Möbeln und Gewächsen. Weiterhin das Kaiser- und Kriegerdenkmal zu Ehren der in den drei Feldzügen (1864, 1866, 1870/71) gefallenen Soldaten am späteren Mollplatz und das Kreishaus. Seine Schilderung der Lenneper Situation in der Zeit der sog. Sozialistengesetze (1878-1890) würde allerdings auf andere preußische Regionen genau so zutreffen können. Es scheint so, als wollte Ommerborn mit diesem zusammenfassenden Kapitel das Thema Lennep nunmehr abschließen, da ja sein Romanheld eine Pfarrstelle in Lüttringhausen gefunden hatte.
Ommerborns Bemerkungen zu Lennep sind insgesamt eher vage. Auch auf eine Choleraepedemie in Lennep kommt Ommerborn, wie erwähnt, zu sprechen, allerdings nicht auf die historische von 1849, sondern auf eine weit weniger bedeutungsvolle in den 1880er Jahren. So wenig die Angaben Ommerborns für Lennep im Einzelnen nachvollziehbar sind, so wundersam erscheint uns heute die Abhilfe, durch die ein schlauer Pastor Krause als Werkzeug Gottes die Cholera besiegte. Der gewitzte Kirchenmann vertraut in den Glauben der Kranken auf eine göttliche Rettung und verteilt, modern gesprochen, Placebo-Pillen aus einer kleinen silbernen Dose, in Ommerborns eigener Überzeugung: „Wer an Jesus Christus glaubt, dem ist geholfen“, er wird also nicht an der Cholera sterben. Als der amtierende Kreisphysikus als Arzt den Pastor fragt, was er denn verabreicht habe, antwortet dieser: Ich habe ihnen Leben aus Gott gegeben! Es war in Wirklichkeit zu scheinbaren Arzneipillen zusammen gefrimmelte Schwarzbrotkrume, aber die Kranken glaubten in ihrer schon eingetretenen Todesgewissheit an die Wirkung und ihre Rettung.
Ommerborns Landstraßen-Mission und radikalchristliche Einstellung
Die letzte Epoche des rastlosen Wirkens des freien Schriftstellers Ommerborn spielt sich wie seine Kindheit in Wuppertal-Barmen ab und ist über eine Auseinandersetzung mit der Inneren Mission in Bethel schriftlich dokumentiert. Ommerborn begann im Herbst 1927 in Barmen den Aufbau einer Ev. Landstraßen-Mission, einer im Prinzip von den Pastoren Bodelschwingh bereits angedachten Einzelmaßnahme im Gesamtkonzept der
Inneren Mission. Ommerborn erklärte später die Missionsgründung so: Es ging mir nicht um bloße Beschäftigung … Mich trieb nicht Langeweile, politische oder religiöse Unruhe oder Sucht nach Wertgeltung. Ich war fast 30 Jahre den Kampfweg des Sozialismus und Kommunismus gegangen. Ich hatte dann endgültig erkannt, dass auch der organisierte Sozialismus im Grunde auf den Gräbern der „Armgemachten“ die Lösung seiner eigenen Frage suchte. Nicht die kommunistische Brüderlichkeit, sondern die wahre Bruderschaft im Sinne eines Christussozialismus schwebt ihm jetzt vor. So geht Ommerborn selbst auf die Landstraße und hilft wo er kann. Ommerborn wäre aber nicht Ommerborn, wenn er sich einfach nur als Teil oder Flügel der Inneren Mission betätigte. Vielmehr wendet er sich bald auch gegen diese, und zwar mit genau denselben Vorwürfen wie dem Sozialismus gegenüber. In den von ihm gegründeten „Vierteljahres-Heften der Evangelischen Landstraßen-Mission“ vergleicht er im Juliheft des 4. Jahrgangs 1932 die Anstalten der Inneren Mission, und insbesondere dabei die sog. Arbeiterkolonien, mit der kapitalistischen Ausbeutungsindustrie, in der die Mittellosen allenfalls Almosen erhalten, jedoch für ihren Arbeitseinsatz weder gerechten Lohn noch adäquate Sozialrechte. Sein Aufsatz endet mit der Feststellung: ich erkannte die treue Interessengemeinschaft zwischen bürgerlichem Staat und bürgerlicher Kirche in dem gotteslästerlichen Zusatz der Kirche: Gott hat es so gemacht. So bleibt also auch nach seiner Wende ins evangelische Christentum der sozialistische Gedanke erhalten.
Ommerborns berühmte Briefpartner – Eine literaturwissenschaftliche Legende
Schon früh verbinden literarische Lexika den Namen Ommerborn mit einer Person namens Franz (von) Ullmann. Dies beruht darauf, dass ein im Jahre 1907 veröffentlichter Kriminalroman mit dem Titel „Der enthauptete Tote“ von Ommerborn stammt, auch wenn als Verfasser ein Franz Ullmann angegeben ist. Diese früh hergestellte Beziehung wurde später auch in dem maßgeblichen Literaturlexikon von Wilhelm Kosch (3. Aufl.) wiederholt. Weiterhin waren beim Deutschen Literaturarchiv in Marbach lange Zeit acht Briefe bekannter Schriftsteller an Ommerborn verzeichnet, darunter solche von Klaus Mann und Lion Feuchtwanger. Die Literaten schrieben ihre Briefe an Franz Ullmann, der in Marbach fälschlich als J.C. J. Ommerborn identifiziert wurde. Genauere Recherchen ergaben jetzt aber, dass es sich hier um einen Literaturagenten im Umkreis des Übersetzer- bzw. Verlegerehepaares Brody handelt. Ommerborn selbst wäre vielleicht dieser Franz Ullmann oder auch Franz von Ullmann gerne gewesen. Bei seiner oft hochfliegenden Selbstdarstellung hätte man u.U. glauben können, ein Aufenthalt z.B. im Münchner Nobelhotel Continental nur „per Adresse“ sei Wirklichkeit gewesen. Der wirkliche Ullmann war ja ebenfalls nie zu erwischen, sondern immer unterwegs, so rastlos wie Ommerborn, den es immer wieder in neue Abenteuer der Selbsterhaltung trieb. Die zeitliche Entstehung der Briefe passt auch nicht zur Ommerborns wirklicher Biografie, als sie geschrieben wurden, war er längst als Straßenmissionar unterwegs. Jedenfalls müssen nun die Lexika in Zukunft anders geschrieben werden, und auch die Personendatenbanken, auf die man in der Kulturwelt heute laufend zurück greift, müssen ihre Eintragungen revidieren.
Zusammenfassung, weitere Aspekte, Ausblick
Werfen wir nun einen Blick auf das Gesagte zurück. Zunächst: Ommerborns Leben, so wie es in den Literaturlexika früher dargestellt wurde, es war nicht so, die Vermutung eines wirklichen Lennep- oder Schlüsselromans erweist sich als bewusste Inszenierung, und der im Deutschen Literaturarchiv in Marbach lange Zeit verzeichnete Briefwechsel mit bedeutenden Schriftstellern beruht auf einer Verwechselung. Warum also heute noch das Thema Ommerborn? Immerhin – die Fülle seiner literarischen Produktion, bei wikipedia sind heute knapp 40 Erzählwerke verzeichnet, beweist ja, dass der Schriftsteller seinerzeit sehr viel gelesen wurde. Durch Ommerborns Beziehung zu führenden Vertretern des Anarchismus und Sozialismus spielt er in deren Geschichte wie auch in der Geschichte der Kriminalliteratur eine gewisse Rolle. Weiterhin ist Ommerborn durch seine Landstraßenmission, seine Kontakte zu Bethel und den Bodelschwinghs interessant.
In mehreren Bibliotheksexemplaren der Ommerbornschen Werke wurde übrigens in den 1930er Jahren vermerkt, dass er Mitglied des Nationalsozialistischen Schriftstellerverbands (NSV) bzw. der Reichsschriftumskammer war. Ein Exemplar seines Romans Pastor Hans Kroppmann aus dem Jahre1922 versah er später mit einer Widmung an den kurzzeitigen Reichsbischof von Bodelschwingh. Ommerborns Gesamtbiographie ist bisher nur unvollkommen nachgezeichnet und seine Landstraßenmission kennt man allenfalls noch im Wuppertaler Raum. Die radikalchristliche Einstellung Ommerborns ist bisher nicht wirklich erforscht. In einem Frankfurter Exemplar des Romans Pastor Hans Kroppmann kann man aber z.B. anhand der Randbemerkungen sehen, dass sich Theologen früher damit intensiv beschäftigt haben. Dies hätte heute allenfalls historisches Interesse, aber wer weiß, so wie wir hier einige Geheimnisse aufdecken konnten, vielleicht gibt es deren noch mehr.
Abbildungsnachweise
Abb. 33 Deutsches Lit.-Archiv Marbach
Abb. 35,36 Wikipedia
Sonstige Abb. Lenneparchiv des Verfassers
Textnachweise zu Ommerborn
Eine insgesamt kenntnisreiche Variante bietet das Deutsches Literaturlexikon („Kosch“), 3. Auflage Bd. 11, Basel und Stuttgart 1988, Artikel Ommerborn von Anna Stüssi.
Knüppel, Christoph, Christian Ommerborns Kampf mit sich und der Welt und Satan – Teil 1. In: Rundbrief Dortmund (HistorikerInnen-Rundbrief), (1993), Nr.8, S. 7
Der hier auszugsweise wiedergegebene Text von Ommerborns eigenhändigem Lebenslauf ist in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn (ULB) unter der Sammelsignatur Autographensammlung niedergelegt.
Ommerborn, J.C.J., Pastor Hans Kroppmann. Zeitgeschichtlicher Roman, Barmen-Wichlinghausen, Bücherei Montanus,1922, S. 32ff.
Ommerborn, J.C.J., Zur Rechtfertigung der evangelischen Landstraßen Mission, in : Vierteljahresschrift der Evangelischen Landstraßenmission, Juli 1932, S.27-30
Deutsches Literaturarchiv Marbach /Handschriftenabteilung. Die Eintragungen zu Ommerborn wurden hier inzwischen gelöscht.
Nachweise für Ommerborn im KALLIOPE-Verbund bei der Staatsbibliothek Berlin:
http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/de/search.html?q=ommerborn
Weiterhin im KVK (Karlsruher Virtueller Katalog): https://kvk.bibliothek.kit.edu/?digitalOnly=0&embedFulltitle=0&newTab=0
Weiterführende Literatur
Bodelschwingh d.J., Friedrich v., Durch böse u. gute Gerüchte, in: Der Wanderer 49 (1932) S. 181-193
Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus: http://www.dadaweb.de/wiki/Hauptseite
Hans Kadereit, Der Lenneper Armenpastor, in:
http://suite101.de/article/der-lenneper-armenpastor-a72779#.VPQ8ZOFOo20
-r (Kürzel des Verfassers), Was will und schafft die Evangelische Landstraßenmission? Kritischer Artikel in: Arbeiterwohlfahrt 3 (1928), H.11. S.348
Schädel, Mirko Illustrierte Bibliographie der Kriminalliteratur 1796 -1945 im deutschen Sprachraum, Band 1, Butjadingen, Achilla Presse Verlagsbuchhandlung 2006.
Schmidt, Wilhelm R., Krimi-Autor und „Landstraßen-Missionar“ Ommerborn, http://waterboelles.de/archives/6876-Krimi-Autor-und-Landstrassen-Missionar-Ommerborn.html
Schmidt, Wilhelm R., Johann Christian Ommerborn und Lennep, in: Romerike Berge – Zeitschrift für das Bergische Land, hrsg. Vom Bergischen Geschichtsverein, 65. JG., Heft 3 / 2015.
Onlineversion, vermehrt um zahlreiche Abb.: www.lennep.eu/j-c-j-ommerborn-und-lennep/
Stadtbibliothek Wuppertal – Archive – Materialien zu Ommerborn: 12 Titel, 2 Porträtfotos, Todesanzeige, mehrere Beileidsschreiben, Verlagsprospekte, Rezensionen von Büchern, ein Brief von Ommerborn sowie 1 Flugblatt
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