Immer wieder gibt es Zufallstreffer. Auch bei der Vergegenwärtigung der Lenneper Historie. Wie bekannt kümmert sich der Schreiber dieser Zeilen seit geraumer Zeit um die Geschichte der Lenneper Firma Wender & Dürholt. Im Zuge dieser Untersuchungen stieß er über die letzten Eigentümer der Firma auch auf ein Doppelhaus an der Borner Straße, zwischen der heutigen großen Kreuzung nach Remscheid und der eigentlichen „Trecknase“ gelegen, wo früher sozusagen im rechten Winkel der Verkehr nach Remscheid ging. Das Haus stand bis zur gänzlichen Veränderung des Gesamtareals für Verkehrs- und Wirtschaftszwecke in den 1970er Jahren in direkter Nähe des Lenneper Wasserturms. Dieser wurde im Jahre 1910 errichtet und im Dezember1972 schlug für dieses Lenneper Wahrzeichen das letzte Stündchen. Fast das gesamte Areal ist heute zu einem Industriepark geworden. Aber nur fast, denn das hier in Frage stehende Doppelhaus gibt es durchaus heute noch. Auf alten Fotos sieht man es übrigens öfters zusammen mit der historischen Schenkwirtschaft Franz Steinhaus, meist rechts da im Hintergrund vor dem genannten Wasserturm.
Was ist an diesem Doppelhaus, das die Zeiten überstanden hat, so interessant? Für die heutigen Bewohner wohl nichts. Aber die aufmerksamen Liebhaber der Lenneper Geschichte kennen dieses Haus aus den stadtgeschichtlichen Erzählungen des Baumeisters Albert Schmidt und des zeitweiligen Lenneper Stadtarchivars Paul Windgassen. Auf einen Nenner gebracht: Vor rund 100 Jahren rettete Albert Schmidt dieses seinerzeit wunderschöne bergische Bauwerk vor dem Abriss und der völligen Zerstörung, weil er es als wirkliches „Schätzchen“ betrachtete und erhalten wollte.
In seinem mehrteiligen Aufsatz „Über die äußere Entwicklung der Stadt Lennep seit Anfang des vorigen Jahrhunderts“, d.h. für uns heute: ab 1800, zeichnet der Architekt und Talsperrenbauer die bauliche Entwicklung der Kreisstadt Lennep nach und kommt dabei auch auf das Areal am Thüringsberg zu sprechen. Er schreibt „Am Hindenburgwall, früher Alleestraße (diese Namen trug der Thüringsberg früher) war etwa von 1815-1820 ein schönes altbergisches Doppelhaus, etwa zwanzig Meter von der Straße entfernt, errichtet worden, von der Firma des Peter Mathias Wirtz, der auch eine kleine Tuchfabrik mit Wasserkraft an der Diepmannsbach betrieb. In einem hinteren und seitlichen Anbau an das Wohnhaus wurde Handweberei und Tuchappretur betrieben. In den 1860er Jahren wurden diese Anbauten zu einer Margarinefabrik umgebaut, die aber später wieder einging. Das Wohnhaus wurde im Jahre 1912 abgebrochen und an der Borner Straße, unterhalb des neuen Wasserturms wieder aufgebaut“.
Es ist, glaube ich, wenig bekannt, dass Paul Windgassen, der gelernte Kapitän, der aber nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund der nicht mehr existenten Handelsmarine zeitweilig als Archivar der Stadt Lennep beschäftigt war, ebenfalls ausführliche Aufzeichnungen zur Lenneper Geschichte verfertigte, wobei er, sofern vorhanden, die Version von Albert Schmidt zunächst wörtlich zugrunde legte, um sie dann mit den Ergebnissen seiner eigenen Forschungen aufzufüllen. Dies geschah auch bezüglich der gerade wieder gegebenen Passage, wobei Windgassen auf mindestens eine zweite Textversion von Albert Schmidt zurückgriff, in der dieser nämlich ausdrücklich bekannte, selbst derjenige gewesen zu sein, der im Jahre 1912 das in Frage stehende Haus rettete. Windgassen formuliert (die Originalhandschrift findet sich im Remscheider Stadtarchiv): Ungefähr in der Mitte des heutigen Thüringsberges, an dem damals (1845) vorhandenen Fahrweg (wozu von Albert Schmidt auch mehre Lageskizzen erhalten sind), lag das Besitztum des Kaufmanns und Tuchfabrikanten Peter Mathias Wirths, geb. 22. 09. 1801 in Lennep. Es bestand aus einem zweistöckigen Doppelwohnhaus in altbergischem Stil, Fachwerk mit Schieferbekleidung. Die Fabrikanlage wurde später von der Firma Hugo Hammacher (1839-1894) als Butterfabrik umgebaut und benutzt. Der Vorhof war mit prächtigen großen Lindenbäumen besetzt. Das hinter diesen Bäumen liegende Haus hatte auf den damaligen Baumeister Albert Schmidt einen so großen Eindruck gemacht, dass er es, als es später zum Abbruch verkauft werden sollte, ankaufte und an der oberen Kölner/ Borner Straße wieder aufbaute.
Dass teilweise das Wort Butterfabrik, andererseits aber das Wort Margarinefabrik überliefert ist, dies erklärt sich dadurch, dass das Butterersatzprodukt Margarine in seiner Entstehungszeit gerne auch Margarinebutter genannt wurde. Von Holland herkommend entwickelten sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland Margarinefabriken beispielsweise in Kleve, Goch und Köln, insbesondere aber dann, als Bismarck im Jahre 1887 auf die holländischen Produkte einen Schutzzoll von dreißig Prozent erheben ließ. Die Butter, das klassische Fett, war seinerzeit teuer und meist unerschwinglich für die Arbeitergroßfamilien. Der Brotaufstrich, den sie sich leisten konnten, war neben Mus der Butterersatz Margarine, denn sie war halb so teuer. Manchmal enthielt die Margarine zur Geschmacksverfeinerung auch einen Anteil Butter.
Den Aufzeichnungen Albert Schmidts fügte Windgassen in seiner Version später noch einen satirischen Bericht hinzu, der nach seiner Angabe 1888 im Lenneper Kreisblatt gestanden haben soll. Der Beitrag nimmt auf die inzwischen eingetretenen Verbote Bezug, Margarine und Butter in einem Wort verbunden anzubieten. Es heißt dort, jemand habe sich sehr gefreut, dass ihm weit weg von der Heimat die wohlschmeckende Lenneper Margarinebutter, welche fernerhin nur mit Lenneper Margarine angeredet werden darf, im friedlichen Verein mit den überall so vorzüglich befundenen und bekannten Lenneper Zwiebäcken vorgesetzt wurde. „Ach wie köstlich mundeten uns, so weit von zu Hause, diese beiden vaterstädtischen Produkte, ja es war uns in der Tat zumute, als wenn mit jedem genossenen Bissen freundliche und wohlwollende Grüße aus der lieben Heimat ihren Einzug in unser Herz genommen hätten“.
Auch wenn die Margarineidee sich mit Macht und aus den verschiedensten, heute nicht zuletzt gesundheitlichen Gründen weiter entwickelte, in Lennep zumindest erwies sich der vergleichsweise sehr früh eingerichtete Produktionszweig für den Unternehmer Hugo Hammacher als Sackgasse, so dass wie erwähnt sein früheres Firmenareal an der Biegung des Lenneper Thüringsbergs umgestaltet wurde. Deshalb sollte also das altbergische Haus am Thüringsberg abgerissen werden, und nur aufgrund der Heimatliebe eines Baumeisters durfte es an der Trecknase weiterexistieren.
Schon lange hatte sich der Verfasser dieser Zeilen gefragt, ob denn das in das Areal der Neustadt verbrachte altbergische Haus dort identifizierbar sei. Der Hinweis auf den späteren Standort war zwar bei Albert Schmidt recht konkret, aber doch nicht ganz eindeutig, und im Bereich des heutigen Industriehofs Trecknase sind so gut wie keine historischen Bauwerke mehr existent. Da hätte man also lange suchen können, zumal die überlieferten Angaben auch auf die Obere Kölner Straße hinwiesen.
Wie eingangs erwähnt, kommt manchmal aber der Zufall zu Hilfe. Im Zuge der Untersuchungen zur Geschichte der Lenneper Firma Wender & Dürholt fanden sich in den Unterlagen der letzten Eigentümer Grundbucheintragungen über einen Ankauf des Doppelhauses im Jahre 1920, also acht Jahre nach der Verbringung vom Thüringsberg an die Borner Straße. Da der Vorbesitzer seinerzeit der Sohn von Albert Schmidt war, so war auch klar, dass es sich um das in Frage stehende Haus handeln musste, zumal es ein Doppelhaus war. Albert Schmidt war zu dieser Zeit längst im Ruhestand, sein vormaliges Interesse an diesem Objekt war vielleicht auch dadurch veranlasst, dass er im Oberbergischen selbst in einem altbergischen Doppelhaus geboren war, dessen alte und wunderschöne Eingangstür sein Vater über Bauarbeiten in Lennep mitgebracht hatte.
Apropos Eingangstür. Bei den jetzt eingesehenen historischen Unterlagen fand sich u.a. auch ein Foto aus der Zeit nach 1945, auf dem auf der Treppe vor dem wunderschönen altbergischen Hauseingang eine Familie posiert. Es handelt sich um die Familie Eugen Lohmann, die das Anwesen im Jahre 1922 von Albert Schmidts Sohn Arthur erwarb, der in der sog. schlechten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Lennep etliche Häuser bzw. Liegenschaften verkaufen musste. Das Familienbild zeigt mehrere Generationen, die wohl zum 80. Geburtstag der Urgroßmutter sich hier eingefunden hatten, u.a. auch ein Mädchen, das heute noch in Lennep wohnt und über ihre Familiendokumente Aufschluss über die damaligen Verhältnisse geben konnte.
Wer hätte gedacht, dass nach so langer Zeit diese Dinge noch einmal Thema werden könnten: ein zwischenzeitlich verschollenes altbergisches Doppelhaus, die Lenneper Margarinebutter, der Wasserturm an der Trecknase und Grundstückdokumente aus den 1920er Jahren.
Auch wenn ja nach manchem gesucht wurde, der Zusammenhang konnte nicht einmal vermutet werden. Hier half der Kommissar Zufall, und eine Geschichte ist es allemal wert.