Es mag ungefähr zehn Jahre her sein, da wandte sich eine freundliche, schon betagte Dame an mich, um das Motiv eines alten Fotos zu bestimmen, das einen Lenneper Gesangsverein auf Reisen zeigt. Obwohl viele Lenneper deutlich abgebildet waren, gelang es nicht, den Ort ihres Treffens dingfest zu machen, bei den Gesprächen im Tuchmuseum und in der Wohnung der Dame kamen jedoch hochinteressante weitere Fotos zum Vorschein.
Die alte Dame, inzwischen verstorben, stammte aus der Familie Neuhaus, die an der Ecke Schwelmer- und Schillerstraße in Lennep über lange Zeit eine Seilerei betrieb. Nach den familiären Recherchen kam um 1800 der Urahn Franz Neuhaus nach Lennep und heiratete dort die Anna Westen vom Hohenhagen. Franz Neuhaus war von Beruf Postillion, er starb 1842. Von seinen Nachkommen, die dann die Seilerei betrieben, gibt es noch Fotos. Insbesondere vom Großvater der besagten Dame, der in einem Lenneper Schützenverein „Schützenkaiser“ wurde und auf einem Foto beim Schützenumzug vor dem Ofengeschäft der Gebrüder Bauerband gegenüber dem Berliner Hof in der Festkutsche zu erkennen ist. Ungefähr aus der Zeit um 1900 stammt eine Ablichtung des Lenneper Damenkränzchens „Maiblume“, mit Angehörigen der Familien Neuhaus (Seilerei), Gross (Bahnhofsrestaurant), Windgassen (Gaststätte am Kölner Tor) und Vollmer (Bäckerei). Das Kränzchen hieß Maiblume, weil alle Damen hier im Mai Geburtstag hatten. Zum 70. Geschäftsjubiläum der Seilerei im Jahre 1928 präsentierte der damalige Seniorchef Heinrich Wilhelm Neuhaus eine seltene Rarität, eine Erstausgabe Heinrich Wilhelm Neuhaus mit Lenneper Kreisblatt von 1830 des Lenneper Kreisblatts aus dem Jahre 1830. Rechnet man die genannten 70 Jahre zurück, so kommt man auf das Jahr 1858, in dem die Seilerei an der Schwelmer Straße gegründet wurde, im Eigentum der Familie war sie in jedem Fall ab 1860. Übrigens: Ein Seil ist lexikalisch ausgedrückt „ein aus zusammen gedrehten Fasern oder Drähten bestehendes längliches, biegeschlaffes, elastisches Element zur Übertragung von Zugkräften“ und wurde früher per Handwickelmaschine hergestellt.
Von dem schon im 19. Jahrhundert schon früh bestehenden Wohnhaus der Familie Neuhaus an der Schwelmerstraße gibt es zahlreiche gute historische Fotos, auf denen neben einzelnen Personen und mannigfaltigen Seilen oft auch der Weg „Zum Schützenfeld“ gut zu erkennen ist. Haus und Weg gibt es ja heute noch. Unter den historischen Fotos befinden sich aber auch wirkliche Raritäten. Wer weiß denn noch, wie eine Seilerei einstmals gearbeitet hat und wie sie ausgesehen hat? Zum Drehen oder „Schlagen“ der Seile brauchte man recht viel Platz, eine ziemlich lange räumliche Erstreckung, eine „Bahn“, die uns heute am ehesten durch den Begriff „Reeperbahn“ überliefert ist, wo Reeps, Taue und Seile für die Schifffahrt produziert wurden. Von der „Bahn“ an der Schwelmer Straße, die gegen das bergische Wetter durch einen Langschuppen geschützt und mit zahlreichen Lüftungsklappen versehen war, gibt es noch Fotografien, die u.a. aus den oberen Geschossen des Neuhausschen Hauses gemacht wurden, so dass man die Schwelmer Straße hinunter nicht nur auf den Langschuppen, sondern darüber hinaus auf die damalige Maschinenfabrik Friedrich Haas und sogar die beiden Lenneper Kirchen blickt. Derartige Fotografien sind nicht nur selten, sondern in unserem Fall einzigartig und bisher völlig unveröffentlicht. Andere Aufnahmen zeigen das Anwesen umgekehrt von der Maschinenfabrik Haas her. Bei dieser Sicht fällt auf, dass es hier gar keine Schillerstraße gibt. Der historische Langschuppen ging damals über sie hinweg – weil es sie noch gar nicht gab. Sie entwickelte sich nach und nach von der Knusthöhe her und mündete nach der Erinnerung der Familie erst 1909 in die Schwelmer Straße. Im Jahre 1903 gab es übrigens noch eine zweite Seilerei in Lennep, im Zeitalter der fortgeschrittenen Industrialisierung lohnten sich aber derartige Handwerksbetriebe kaum noch, so dass man sich anderen Berufen zuwandte. Immerhin ist im Remscheider Adressbuch von 1984 für die Schwelmer Straße 38 noch ein Neuhaus mit dem Zusatz „Seilereiwaren“ verzeichnet.
In der von Albert Schmidt verfassten und später von Paul Windgassen oft benutzten Skizze der „Stadt Lennep im Jahre 1830 mit Umgebung bis zur Wasserscheide und den Quellbächen des Lenneperbaches“ ist übrigens das Anwesen der Familie Neuhaus einschließlich des Langschuppens sehr gut erkennbar, was uns schließen lässt, dass Albert Schmidt der Meinung war, dass es damals bereits existierte. Natürlich fehlt hier die Schillerstraße, aber der Weg zum Schützenfeld ist eingezeichnet. In dem spitzen Winkel der damals noch nicht existenten Albert-Schmidt-Allee und der Schwelmer Straße lag ganz früher die sog. Alte Windmühle, also gar nicht weit vom Anwesen der Seilerei entfernt. Hieran knüpft sich eine andere Geschichte, die ich von Frau Neuhaus erfuhr. Irgendwo zwischen der Seilerei und der Windmühle befand sich schon früh, ggf. schon seit der Gründung der städtischen Windmühle im Jahre 1551, ein Driethüsken, also eine zeitgenössische Sanitäranlage, zu deren Benutzern auch die Windmüllerfamilie gehört haben soll. Dieses Driethüsken überdauerte dem Vernehmen nach die Zeiten und wurde im Jahre 1919 in den Garten der Familie Neuhaus versetzt, um zunächst als Hundehütte zu dienen. Später wurde es als Spielhäuschen für die o.g. Berichterstatterin und als Geräteschuppen „zweckentfremdet“. Das weitere Schicksal ist in unserem Zusammenhang nicht von Belang. Interessant jedoch ist die „Driethüskengeschichte“, die die alte Dame im Rahmen ihre familiären Erinnerungen erzählte und sogar aufgeschrieben hat. Mit ihr weitet sich der Blick von Remscheid in die weite Welt. Wir geben diese Geschichte gerne wieder, ob sie nun wahr ist oder auch nicht. Wenn nicht, dann hätte sie zumindest wahr sein können, denn ähnliche Geschichten werden in Remscheid von alters her erzählt. Sie lautet:
Ein Erkennungswort der Remscheider, die seit Jahrhunderten in der Welt umherreisen, war das „Driethüsken“. So wird berichtet, dass einst ein Remscheider Kaufmann zu einem Festessen ins russische Petersburg kam. An der langen Festtafel waren Kaufleute aus aller Herren Länder vertreten, in allen Sprachen wurde lebhaft geredet und gestikuliert. Dolmetscher halfen, so gut sie konnten. Der Remscheider Vertreter wollte schließlich einmal feststellen, ob außer ihm noch andere Kaufleute aus dem Bergischen Land anwesend waren. So rief er mit halblauter Stimme über den Tisch: Kennt hie ömmes van önk en Driethüsken?!“ (Kennt hier einer von Euch ein Driethüsken?) Und siehe da! Sogleich erhob sich am anderen Ende der Tafel eine große kräftige Gestalt und antwortete in bestem Platt: „O Donnerkiel! Driethüsken? Geweß dat! Dann böß du secher van Remsched!“ Es war ein Cronenberger Schraubenfabrikant – artverwandt. So hatten sich die Bergischen gefunden.