Historische Erinnerungen zu einem Areal im Wandel
Fast jede Woche haben wir in der letzten Zeit in den Zeitungen und im Internet gelesen, dass die Parkanlage an der Post- bzw. Bergstraße in Lennep einem modernen Ärztezentrum weichen soll.
Was die Zukunft bringen wird, das wissen wir noch nicht ganz genau, et kütt wie et kütt, sagen nicht nur die Kölner, und dass die drei Weisen aus dem Morgenland, die jetzt am Epiphaniastag auch in Lennep umgehen, bezüglich unseres Thema kundig sind, ist eher zu bezweifeln, aber dem Schreiber dieser Zeilen drängen sich auch ein paar Gedanken auf, wie es dort an der Bergstraße früher war:
Das alte Jahr vergangen ist, das neue Jahr beginnt. Wir danken Gott zu dieser Frist, wohl uns, dass wir noch sind, dieses Lied des Dichters Hoffmann von Fallersleben, den der junge Lenneper Albert Schmidt bei seinen Baugewerksstudien in Holzminden noch als alten weißhaarigen Mann in Corvey erlebte, dieses Lied blies vor mehr als hundert Jahren der Lenneper Gastwirt Hermann Windgassen auf der Trompete von seiner Wohnung auf der Karlshöhe aus, das war seinerzeit die Bezeichnung für den oberen Teil der heutigen Karlstraße, über das alte Lennep. Der Trompeter mit dem Spitznamen Plack bewirtschaftete bis kurz nach 1900 unter der Bezeichnung „Restauration Windgassen“ den späteren „Kölner Hof“ auf dem Grund des historischen Kölner Tors und galt wie sein bester Freund Emil (Pimm) Ruwiedel als Lenneper Original. Immer in der Neujahrsnacht erschallte nach den Aufzeichnungen seiner Zeit- und Vereinsgenossen (man war z.B. im Bürgerverein und bei der Feuerwehr, für die Windgassen die Kapelle gründete) die Melodie über das Areal des Lenneper Bahnhofs die Berg- und Poststraße hinunter zur Altstadt.
Die Bergstraße, die in diesen Tagen wegen des Verkaufs der sog. Parkpalette dort in das Bewusstsein der Lenneper trat, sah damals ganz anders aus. Ursprünglich war sie einer der schmalen Wege hinauf zum Westerholt, die es vielleicht schon seit dem Mittelalter gab, als die Eisenbahn dann im Jahre 1868 gebaut wurde, wurde ein Teil des früheren Weges unter der heute noch existenten Unterführung an der Gartenstraße zur Schlachthofstraße geführt, und die Bergstraße hieß dann bis 1922 Bahnhofstraße. Es gibt noch Zeichnungen von Albert Schmidt zu diesem Areal, die er für die Familien Hardt anfertigte, die wie die Familien Hölterhoff und Schröder in dieser Gegend große Grundstückseinheiten besaßen. Die heutige Bahnhofstraße wurde erst später gebaut und hieß zunächst zeitgemäß Kaiserstraße. Alle neuen und besonders schönen und wichtigen Straßen wurden seinerzeit dem Kaiser Wilhelm bzw. Personen seiner Dynastie gewidmet, aber die Bergstraße, heute eher funktional anzuschauen, gehörte im oberen Teil eine Zeit lang auch zu den besonders ansehnlichen Bereichen der Kreisstadt Lennep, zumal hier auch die nationalen Feiern abgehalten wurden, denn das Kaiserdenkmal am Mollplatz gab es da noch nicht. Noch im Jahre1903 begann der bebaute Teil allerdings erst beim Gesellschaftshaus der sog. Kaufmannsgesellschaft, später Hotel zur Post, also dort, wo die Bergstraße heute oben endet. In der ursprünglichen Form zog sie sich wie erwähnt als Bahnhofsstraße (heute „Am Bahnhof“ und „Robert-Schumacher-Straße“) von der Kaufmannsgesellschaft über das Bahnhofsrestaurant von Oskar Groß und den eigentlichen Bahnhof bis zum ehemaligen Güterbahnhof und den Gebr. Busatis hin.
Die Kaufmannsgesellschaft, die von Baumeister Albert Schmidt 1875 erbaut und mehrfach erweitert wurde, war also das erste repräsentative Gebäude am oberen Ende der heutigen Bergstraße. Im Jahre 1899 lud sie ihre zahlungskräftigen Mitglieder, zu denen außer den reichen Kaufleuten allenfalls noch ihre Teilhaber, die hochgestellten Direktoren und die Honoratioren wie z.B. der Landrat gehörten, zu einem Festmahl anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Gesellschaft ein. Früher hatte man u.a. im steinernen Rathaus am Alten Markt getagt und gefeiert. Das für heutige Verhältnisse pompös ausgestatte Etablissement der Kaufmannsgesellschaft servierte damals Frühlingssuppe, Zander, Mailänder Pastete mit Halbmöndchen, Rehbraten, Spargel und Schinken, Junge Hahnen mit Salat sowie als einen der Nachtische Reispudding mit Aprikosenguss. Die Weine kosteten zwei bis sechs Mark die Flasche, für den Champagner „Witwe Cliquot“ musste man allerdings zehn gute Reichsmark ausgeben. Dafür gab es aber Lifemusik der Werke von Komponisten wie Bach, Bizet, Flotow, Strauss, Waldteufel, Wagner und Zeller.
Das genannte Anwesen nannte sich auch Restaurant zur Friedenseiche, womit an die damals noch glorreiche Kriegsvergangenheit und die Reichsgründung von 1871 erinnert wurde. Die Friedenseiche steht übrigens noch heute an ihrem ursprünglichen Ort, und wenn sie tatsächlich nach der Reichsgründung gepflanzt worden sein sollte, dann wäre sie heute 138 Jahre alt. Jedenfalls gehört sie nach der Bekundung von Spezialisten zu den ältesten Bäumen auf Remscheider Stadtgebiet. Ich selbst sammelte dort in meiner Kindheit Eicheln (sowie die Bucheckern im Hardtschen Park nebenan), und ich habe an die Gaststätte zur Post noch die Nachkriegserinnerung (vor 1955), dass sich dort die Vertriebenen der „Schlesier“ zu Veranstaltungen trafen, z.B. zum Wellfleischessen. Neulich sagte eine Lenneperin zu mir: ach so, Du meinst den Gasthof zur Pest. In der Tat erinnert nur noch wenig an die einstige Glanzzeit des Gebäudes, allenfalls ein paar sehr schöne Stuckarbeiten zum Bahnhof hin. Hier entstand wohl der Ausspruch sic transit gloria mundi, was für Lennepheißt: die glorreichen Tage der Tuchindustrie und ihre weltweiten Beziehungen sind dahin. Die Friedenseiche kennt wohl unter dieser Bezeichnung kaum noch jemand, sie fügt sich harmonisch jetzt in einen nachgewachsenen Schilderwald ein, drum auch heißt wohl die Gastsstätte nunmehr Harmony.
Im oberen Bereich der Bergstraße war also die Kaufmannsgesellschaft das erste große und moderne Gebäude. Es war aber sogleich zusammen mit der Friedenseiche als Motiv für Postkartenkünstler äußerst beliebt. Über das gärtnerisch schön gestaltete kleine Dreieck vor der Gesellschaft hinweg erblickte man dann die großen Gebäude an der Poststraße, aus der Ferne grüßten die Lenneper Kirchen, die beide gut auszumachen waren. So hatte man sowohl vorn wie auch weiter weg ein sehr ansehnliches Lennep. Dutzende unterschiedlicher Postkarten sind heute davon erhalten, und viele dabei handkoloriert. Immer mit von der Partie waren auch die aufwendigen Begrenzungsmauern zum großen Park der Familie Hardt zwischen Garten-, Berg- und Poststraße.
Beim Betrachten der Postkarten dieses Areals aus dem genannten Blickwinkel sucht man als älterer Lenneper unwillkürlich nach dem im Volksmund so genannten Pferdestall. Der vom Lenneper Architekturbüro Wender & Dürholt erstellte Stallneubau von Frau Kommerzienrat Arnold Wilhelm Hardt war in dieser Zeit allerdings noch gar nicht vorhanden. Es handelte sich um einen der Neubauten im Altbergischen Styl, die in Lennep durch die genannte Firma und z.T. auch durch die Baufirma Arthur Schmidt zumeist für Familien wie Hardt bzw. deren Unternehmen erstellt wurden, zeitlich allerdings erst ab 1908. Die Schreibweise „Styl“ war übrigens damals auch was „Besonderes“ und sollte den Neubauten zu einer besonderen Wertanmutung verhelfen. Der Pferdestall war in Wirklichkeit sehr funktional ein ausgedehntes zweistöckiges Wirtschaftsgebäude mit mehreren Ställen, einer Wagenhalle, Hafer-, Putz- und Geschirrkammern, aber auch Zimmern für die Kutscher und Bediensteten und sogar Gästezimmern. Natürlich wurde auch dieses Anwesen bald zu einem beliebten Postkartenmotiv, insbesondere die architektonisch besonders schöne Westseite in Richtung Bahnhof. Als Kind kam es mir nicht in den Sinn, dass dieses heute nicht mehr existierende Gebäude nur knapp vierzig Jahre älter war als ich selber. Zwischen der oberen Seite der Bergstraße und der Poststraße war dann baulich eigentlich weiter nichts, d.h. die dortigen großen Gärten, die schon früh als großzügige Parks mit Gartenhäusern gestaltet waren, gehörten zu den Villen bzw. Wirtschaftsgebäuden der Poststraße. Auch davon sind heute noch Fotos erhalten, u.a. erblickt auf einer seltenen Aufnahme der Sammlung Schröder im Lenneper Tuchmuseum das Rathaus an der damaligen Kaiserstraße (später Bahnhofstraße) von hinten.
Bleiben zum Thema Bergstraße die untersten Bauten, die zur Poststraße gehörten. Erhalten ist bis heute das ehemals Arnold Hardtsche Haus, in dem sich jetzt die Apotheke am Bismarckplatz befindet. Auf der anderen Seite der Bergstraße befand sich früher das hohe große Wolllager der Fabrikanten Hölterhoff, allerdings im Verhältnis zur links nebenstehenden Villa der Eigentümer und den umliegenden Poststraßenhäusern etwas zurückgesetzt, so dass man es auf vielen historischen Fotografien gar nicht oder nur seine Schornsteine erblickt. Nach den stadtgeschichtlichen Aufzeichnungen von Albert Schmidt und Paul Windgassen im Remscheider Stadtarchiv waren am unteren Ende der Poststraße alle frühen Fabrikantenareale im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts so aufgebaut: der repräsentative Teil der Privat- und Geschäftsbauten stand direkt an der Straße, die Produktions- bzw. die Lagerstätten, baulich wie im vorliegenden Falle oft direkt angebunden, etwas dahinter. Erst in der nächsten Bauphase an der Poststraße waren die heute nicht mehr existierenden Hardtvillen unterhalb des Mollplatzes reine Wohnhäuser mit Park und Tee- oder Gartenhaus.
Auf dem ehemaligen Areal der Familie Hölterhoff liegt heute das Parkdeck, das nun einem Ärztehaus Platz machen soll. An das Gebäude des Wolllagers übrigens hat so mancher Lenneper noch eine Erinnerung. Es befand sich darin nämlich lange Zeit das Finanzamt der Stadt. Im Februar 1939 z.B. wurde es baulich verändert, und es hieß in der Zeitung: Im Laufe der Jahre sind die Aufgaben des Finanzamtes ständig gewachsen. Die Räume in dem alten Wolllager von Hölterhoff genügen schon lange nicht mehr den gesteigerten Ansprüchen, so dass vor etwa zwei Jahren ein Durchbruch in die erste Etage des angrenzenden Hauses der Commerz- und Privatbank hingenommen werden musste. Später, nachdem das Lenneper Finanzamt an der Wupperstraße 10 auf dem Grundstück der ehemaligen Villa Emil Schröder errichtet war, wurden die Fabrikantenvilla Hölterhoff und das Wolllager im Jahre 1962 abgerissen, und die später errichtete Parkanlage stellt –zur Zeit noch- einen modernen Augenschmaus dar, errichtet von einem Meister des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Die Reaktion vieler Lenneper seinerzeit bei der Entstehung dieses Betonbauwerks erinnert übrigens an die durchaus ähnliche Reaktion um 1912, als nicht weit entfernt das Kaufhaus Dörrenberg entstand. Heute gilt das vormalige Karstadt-Hertie-Gebäude als antik und schön, auch wenn es gerade erst so unschön rutschig davor war, und wir würden uns eine Wiederbelebung des z.Zt. unbenutzten Bauwerks sehr wünschen. Vielleicht ist ja an der Bergstraße das geplante Ärztezentrum auch ein Schönheit, und wenn nicht gleich, vielleicht dann in hundert Jahren.